Es ist das absolute Minimum, was der Gipfel Biden-Putin in Genf an Ausbeute erbracht hat. Man will in einen strategischen Dialog vorrangig über den 2024 auslaufenden New-START-Vertrag einsteigen, das gegenseitige Bedürfnis nach Cyber-Sicherheit respektieren und so viel diplomatische Normalität walten lassen, dass die vor Wochen zurückbeorderten Botschafter nach Moskau beziehungsweise Washington zurückkehren. Niemand wird bei einem Treffen, das konfrontative Distanz festschreibt, den Willen zur Entspannung erkennen. Was Joe Biden recht sein dürfte. Solange er Russland als Bedrohung stigmatisiert, lässt sich eine führungsbedürftige NATO dazu vergattern, diese Sicht bedingungslos zu teilen. Woran besonders überzeugt, dass die US-Militärausgaben derzeit beim Elffachen des russischen Verteidigungsetats liegen. Kommen die Rüstungsprogramme des Nordatlantikpaktes in Betracht, steht Russland noch friedfertiger da. Doch ist die Praxis, Realitäten zu frisieren, um Politik zu legitimieren, kaum mehr der Rede wert – der Verzicht auf taktische Flexibilität freilich schon.
Soft und clean
Was zu der Frage führt: Wenn die Biden-Administration China als Hauptgegner ausruft, warum schlägt sie dann keine Bresche in die Phalanx China-Russland oder versucht es zumindest? Weshalb nicht Moskau streicheln, um Peking zu reizen? Zumindest die Offerte, bei absehbarem Wohlverhalten könne Russland wieder zu den G7 stoßen, hätte Wladimir Putin in Genf sicher als freundliche Geste quittiert. Mit den USA und China gewiss, aber mit den USA und Russland stehen sich nicht mehr zwei Systeme gegenüber wie im bipolaren Zeitalter, sondern rivalisierende Großmächte. Sie könnten sich arrangieren, statt sich zu befehden.
Noch ist es nicht so lange her, dass im Westen temporäre Zweckallianzen geschätzt waren. Am 25. September 2001 hielt der russische Präsident eine von allen Fraktionen lange beklatschte Rede im Bundestag und bot dabei unmittelbar nach 9/11 – auch an Washington gewandt – Kooperation im Anti-Terror-Kampf an. Die Offerte wurde insoweit angenommen, als die USA jahrelang ihren Nachschub für Afghanistan nicht zuletzt über Russland abwickelten, das Überflugrechte gewährte und Basen für Zwischenstopps öffnete. Nie offiziell koordinierte, aber wirksame Schläge amerikanischer und russischer Militärverbände in Syrien gegen den Islamischen Staat (IS) hat es zwischen 2014 und 2019 ebenfalls gegeben. Und doch setzt Präsident Biden statt einer produktiven Kooperation auf eine regulierte Konfrontation. Die seit seinem Amtsantritt betriebene ideologische Offensive gegen Russland lässt ihm keine Wahl. Vorerst will sich seine Außenpolitik nicht an Verträgen messen lassen, die militärische, besonders nukleare Risiken minimieren, sondern an Bekenntnissen zur „westlichen Wertegemeinschaft“, um einen globalen Führungsanspruch zu untermauern. Die America-First-Option, diesmal soft und in den Augen Westeuropas clean.
Notgedrungen werden Erinnerungen an den demokratischen Präsidenten „Jimmy“ Carter (1977 – 1981) wach. Der hatte sich einst mit dem Mandat eines Hohepriesters der Menschenrechte ausstaffiert, um dem Gegner Sowjetunion humanitäre Defizite anzukreiden. Am 22. Mai 1977, gerade vier Monate im Amt, umriss Carter an der katholischen Notre-Dame-Universität im Staat Indiana eine „neue Außenpolitik der moralischen Werte“. Vier Jahre nach dem Abzug aus Vietnam, wo die US-Armee durch Giftstoffe abgetötete Wälder, durch Napalm entstellte Kinder und durch Vertreibung entwurzelte Menschen hinterlassen hatten, entzündete Carter Weihrauchstäbchen. Er begann, über sein Land als Geschenk für die Welt zu meditieren, der man notfalls helfen musste, sich dessen bewusst zu werden. Was er übersehen hatte – Moral- und Realpolitik hatte sich noch nie so recht vertragen. Letztlich blieb auch Carter diese Einsicht nicht erspart. Er beschloss seine Amtszeit mit der „Carter-Doktrin“, die hartgesottenen republikanischen Vorgängern wie Richard Nixon gefallen konnte. Unter dem Eindruck der Islamischen Revolution im Iran wurde dekretiert, dass jeder Versuch, die Golfregion kontrollieren zu wollen, „als Angriff auf die zentralen Interessen der USA betrachtet und mit allen erforderlichen Mitteln, einschließlich militärischer, zurückgeschlagen“ werde. Der Feingeist hatte blankgezogen und sich selbst übertroffen. Täuschung und Selbsttäuschung – im Duft der Räucherstäbchen schwand sie prompt.
Wer weiß schon, wozu sich Joe Biden noch ertüchtigt. In jedem Fall hätte er die Erwartungen im eigenen Lager enttäuscht, wäre das Genfer Treffen für präzise Absprachen zur Rüstungskontrolle genutzt worden. Der ideologische Schutzschirm des Westens gegenüber Russland darf keinen Schaden nehmen, indem man sich womöglich gemeinsame Ziele setzt. Einer Entspannungspolitik, die in den 1970er und 1980er Jahren auf Abrüstung angewiesen war und deshalb nicht immer funktionierte, gehen im Westen die Kenner und Erben aus.
Bellizismus der Worte
In Deutschland genießt mit der Generation Maas/Spahn/Habeck Selbstvergewisserung einen höheren Stellenwert als Rüstungskontrolle. Gefragt sind Projektionsflächen, um einen Bellizismus der Worte und Werte auszuleben. Der russische Staat, seine Politiker, seine Militärs, seine Geheimdienste sind die idealen Schurken, um permanent gemaßregelt und angeklagt zu werden. Die Russlandphobie erreicht auf der momentanen Eskalationsskala einen Spitzenwert, wenn Heiko Maas den Eindruck erweckt, nicht deutscher Außenminister, sondern russischer Oppositionsführer zu sein.
Dieser Spezies der hyperloyalen, anlehnungsbedürftigen, geltungssüchtigen Transatlantiker ist mit Joe Biden der Messias erschienen. Er verkörpert eine „historische Chance“, mit der es schnell wieder vorbei sein kann. Donald Trump war – gemessen an der Verwilderung der internationalen Beziehungen, wie sie den Anti-Terror-Kriegen der USA seit 9/11 maßgeblich zu verdanken ist – zeitgemäßer und für sein Land authentischer. Jedoch hat Joe Biden seine Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft. Wie James Earl Carter hat er dazu vier Jahre Zeit.
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