Wer ernsthaft erwartet hatte, Präsident Mursi würde bei seiner Fernsehansprache einlenken und auf sein Verfassungsreferendum verzichten, kennt die Muslim-Brüder schlecht. Sie fühlen sich durch Wahlen an die Macht gebracht und legitimiert. Und sie kommen aus allen Teilen der ägyptischen Gesellschaft. Dass sie unter dem Mubarak-Regime ein clandestines Dasein fristen mussten und teilweise wie illegale Außenseiter behandelt wurden – es hat ihnen weder den Schneid abgekauft noch die Verankerung in allen Sphären der ägyptischen Gesellschaft gekostet.
Die Muslim-Brüder besaßen immer ein informelles Netzwerk, das seit Jahrzehnten die Wirtschaft durchdringt und in Teilen beherrscht. Schon zu Regierungszeiten von Hosni Mubarak hielten sich Antagonismen und Arrangements die Waage. Zur Erinnerung, Kandidat der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, des politischen Arms der Muslim-Bruderschaft, zur Präsidentenwahl im Mai bzw. Juni war zunächst nicht Mohammed Mursi, sondern der Geschäftsmann Chairat al-Schater. Der konnte damals nach provisorischen Umfragen mit 30 bis 35 Prozent der Stimmen rechnen. Doch verwarf die Wahlkommission seine Bewerbung, weil der Kandidat 2007 wegen angeblicher Geldwäsche ins Gefängnis musste. Mit derart Vorbestraften wollte sich die embryonale ägyptische Demokratie nicht belasten.
Zur unerschütterlichen Autorität erklärt
Also wurde ein Mann verbannt, der mehr Unternehmer als Islamist zu sein schien. Hätte er einer demoralisierten und von den permanenten Unruhen gezeichneten Wirtschaft wieder Hoffnung gegeben, statt sich auf eine von religiösen Geboten und Verboten durchdrungene Magna Charta zu konzentrieren? Schwer zu sagen. Fest steht nur, al-Schater wollte seinerzeit den Militärrat umgehend entmachten. Zu sehr schien ihm dieses Gremium des Übergangs von der Gefolgschaft des Ancien Regime durchdrungen und keine Gewähr für eine politische Katharsis Ägyptens.
Mit anderen Worten, ein Präsident al-Schater wäre vielleicht einen Schritt nach dem anderen gegangen, statt sein Heil in einer komplexen Überwältigung zu suchen, wie sie Mohammed Mursi für geboten hielt: Als er sich selbst vorübergehend zur unerschütterlichen Autorität erklärte, die Richterschaft entmachtete und eine neue Verfassung präsentierte, über die umgehend abgestimmt werden soll. Der damit beschworene Widerstand täuscht nicht nur über die tatsächliche Integration und das Renommee der Muslim-Brüder in Ägypten hinweg – er kann auch zu falschen Erwartungen über den Ausgang des derzeitigen Machtkampfes führen.
Man hat es nicht mit machtversessenen Abenteurern zu tun – die Muslim-Bruderschaft unterhält auch wegen ihres wirtschaftlichen Potenzials soziale Hilfswerke, über die Lebensmittel verteilt oder Hospitäler und Schulen unterhalten werden. Ohne diesen Rückhalt könnte kaum überleben, wer mit gerade einmal zwei Dollar am Tag auskommen muss. Und das trifft auf 40 Prozent der Ägypter zu. Auch deren Kampf will Tag für Tag bestanden sein – nicht nur der um eine bestenfalls fragmentarische Demokratie.
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