Bemerkenswert! Dies also ist für die NATO ein Grund zum Feiern. Dass sie clevere und skrupellose Politiker in ihren Reihen weiß, die es verstehen, Vetomacht aufzubauen und auszukosten. Aber es muss wohl so sein: Der türkische Präsident führt das in geradezu exemplarischer Weise vor und der Madrider NATO-Gipfel wirkt schamlos beglückt und erleichtert.
Recep Tayyip Erdoğan lässt Schweden und Finnland als Aufnahmekandidaten passieren. Besser gesagt, er winkt sie locker durch. Entspannt und konziliant, wie ein Staatenlenker eben, der weiß, was er sich wert ist, und es seinen westlichen Partnern gönnt, davon Kenntnis zu nehmen. Wie das Präsidialamt in Ankara mitteilt, habe die Türkei in den Sondierungen mit Finnland und Schweden „
en „bekommen, was sie wollte“.Freibrief zum AusliefernUnd das ist nicht wenig. Offenbar gibt es einen Schulterschluss der Aspiranten und ihres neuen Mentors gegen die kurdisch-türkische Arbeiterpartei PKK und deren Verbündete. Das heißt, Schweden und Finnland haben künftig Anteil daran, dass der Kampf türkischer Kurden um ihre Rechte, ihre Kultur und Selbstbestimmung kriminalisiert und attackiert wird. Damit nicht genug: Sollten dazu Waffen erwünscht sein, gilt kein Embargo mehr für potenzielle Lieferanten überall in Skandinavien. Des Weiteren sollen „konkrete Schritte bei der Rückführung von Terrorverdächtigen“ unternommen werden. Im Klartext: kurdische Migranten aus der Türkei, womöglich ebenso aus dem Nordirak und Nordsyrien, die in Schweden oder Finnland Zuflucht gesucht haben, können an die Türkei ausgeliefert werden. Dazu reichte es, dass auch nur der Verdacht besteht, dass sie „Verbindungen“ zur PKK haben. Damit würde politischen Flüchtlingen der Schutz entzogen und gegen die Genfer Konventionen verstoßen, wenn es so kommt, wie sich jetzt abzeichnet.Front gegen „Terroristen“Eine der Konsequenzen dieses Deals: Sollte in den nächsten Wochen die türkische Armee in Nordostsyrien einmarschieren, und das zum wiederholten Mal, um die dortige Selbstverwaltung anzugreifen, müsste das die NATO wohlwollend begleiten.Ansonsten dürfte sie nicht tolerieren, dass Schweden und Finnland zu den angeführten Konditionen NATO-Mitglied werden. Und auch die Aspiranten selbst sind gehalten, eine Aggression, die Völkerrecht bricht, notfalls zu unterstützen. Erdoğan hat es sich immerhin ausbedungen, dass die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), von denen die Autonomie und Freiheit Nordsyriens verteidigt werden, auf keinerlei Beistand – und sei er finanzieller, politischer oder moralischer Natur – durch Schweden und Finnland mehr rechnen können.Man steht nun in einer Front gegen den „Terrorismus der PKK und ihrer Ableger“, wozu die Regierung Erdoğan sei jeher die YPG zählt. Merke: Willst du NATO-Mitglied werden, befreie dich von allem Ballast, wie ihn Menschenrechte und Solidarität mit unterdrückten Völkern aufbürden. Lerne einen Unterschied zu machen zwischen Kurden und Uiguren. Verstümmele dich bis zur Kenntlichkeit, und du wirst belohnt. Das ist keine Übertreibung, da man sich Folgendes vor Augen halten muss: Während die Regierung des syrischen Staatschefs Baschar al-Assad seit 2012 auf militärische Übergriffe gegen diese Region verzichtet, die eigene Armee zurückgezogen hat und deren Sonderstatus respektiert, entfaltet der NATO-Staat Türkei genau dort stets von Neuem eine zerstörerische Willkür, die Leben vernichtet, Menschen zu Flüchtlingen macht und ökonomische Ressourcen schleift.Wie sich zeigt, ist das für die westliche Allianz kein Grund, Erdoğan die Entscheidung darüber zu verweigern, dass und unter welchen Umständen Neuaufnahmen stattfinden, während Assad wie ein Paria behandelt wird, der geächtet gehört.Kein bloßer KollateralschadenAls Fazit bleibt: Um die Konfrontation mit Russland durch eine Norderweiterung voranzutreiben, zahlt die NATO einen hohen Preis. Der Präzedenzfall, den Präsident Erdogan geschaffen, indem er sich durchgesetzt hat, ist in der Welt und nicht mehr zu tilgen. Der Nordatlantikpakt ist erpressbar, weil er sich erpressen lassen will. Das Wort vom „politischem Kollateralschaden“ erscheint zu schwach, um zu erfassen, was gerade passiert.