Wenn eine Mehrheit der NATO-Mitglieder einen Anti-Terror-Krieg führt, ist anzunehmen, dass alle auf einer Seite der Front stehen und den gleichen Gegner meinen. Beim US-geführten Feldzug gegen sunnitische Dschihadisten in Syrien und im Irak scheint das nicht der Fall zu sein. Die größte Streitmacht der Allianz bombardiert Positionen des Islamischen Staates (IS) im eingekesselten Kobane und wirft Waffen ab. Die zweitgrößte Armee der NATO steht mit ihren Panzern an der Grenze vor Kobane und verhindert, dass Waffen, Munition und humanitäre Hilfe dorthin gelangen. Die Entscheidung des türkischen Staatschef nützt dem IS, die der amerikanische Präsident bekämpfen lässt. Tayyip Erdogan und Barack Obama sind Alliierte und Antipoden zugleich. Was der eine nicht will, kann der andere nicht lassen.
Entente auf Zeit
Ob damit eine Zerreißprobe für den Nordatlantikpakt droht, wird man erst nach der Schlacht um Kobane und deren Folgen wissen. Nur soviel ist jetzt schon gewiss: Das Ausscheren der Türkei signalisiert, wie die NATO mit ihrem grenzenlosen Interventionsanspruch an Bündnisgrenzen stößt, die durch die eigenen Mitgliedsstaaten gesetzt werden. Zu abweichend die Interessen, zu aufreibend die asymmetrischen Kriege, zu unterschiedlich die Beteiligung daran, zu hegemonial die USA, als dass daraus homogenes Handeln werden könnte.
Diesem Zustand angemessen ist eine Entente auf Zeit, die wieder auseinander geht, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Davon überfordert ist eine Allianz auf Dauer, deren statisches Regelwerk aus einen verflossen Jahrhundert stammt und durchaus zur Gefahr werden kann. Denn was geschieht, sollte die Türkei wegen der unsichern Lage an ihrer Grenze zu Syrien den NATO-Bündnisfall reklamieren, der nach Artikel 5 des NATO-Vertrages als kollektiver Verteidigungsfall definiert ist? Dort heißt es, die Mitgliedsländer „stimmen darin überein, dass ein bewaffneter Angriff auf einen oder mehrere von ihnen (…) als Angriff auf alle von ihnen angesehen wird.“
Schon einmal schien es soweit zu sein, als im Juni 2012 ein türkischer Militärjet über internationalen Gewässern von einem syrischen Jäger abgeschossen wurde. Zwar stellte sich später heraus, dass es viel Alarm um einen nie restlos aufgeklärten Vorgang gab, doch wurden ungeachtet dessen Konsequenzen gezogen. Mehrere NATO-Staaten, darunter Deutschland, stationierten Patriot-Systeme in der Türkei. Es galt das Prinzip Beistand im Bündnis, um die Regierung Erdogan zu beschwichtigen, doch wurden zugleich nicht zu unterschätzende strategische Tatsachen geschaffen.
Regionalmächtige Obsession
Schließlich lassen sich mit einer solchen Raketen-Abwehr mögliche Flugverbotszonen überwachen und Kräfteverhältnisse im syrischen Bürgerkrieg beeinflussen. Wird ein nahöstlicher Frontstaat derart zum NATO-Vorposten, hat das besonders dann etwas zu bedeuten, wenn sich dessen Führung nichts sehnlicher wünscht, als das Assad-Regime abzuräumen und in Syrien das türkische Modell eines islamisierten Staates zu implantieren. Käme es dazu, hätte sich auch die westliche Allianz als Pate dieser regionalmächtigen Obsession erwiesen. Nur wozu wollen dann NATO-Staaten wie die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, die Niederlande und andere einen Gottesstaat des IS im Irak verhindern?
Das Bündnis fühlte sich nach dem Epochenbruch von 1989/90 von der Angst getrieben, seinen Feind verloren zu haben. Nun wird ihm gar der Luxus eines äußeren und inneren Feindes zuteil. Wenn das keine Wink des Schicksals ist.
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