Die Phantome des Sultans

Türkei Mit viel Empathie bemüht Premier Tayyip Erdogan Verschwörungstheorien, um die Tatsache zu kaschieren, dass seine Regierung den moralischen Anker verloren hat
Die Phantome des Sultans

Foto: OZAN KOSE/AFP/Getty Images

Wenn Zinsspekulanten die Türkei in die Knie zwingen wollten, würden sie bald im Dreck liegen – nicht aber Tayyip Recep Erdogan. So hatte der Premier – er spricht von sich selbst gern in der dritten Person – Anfang Juni 2013 auf ein mögliches Ende jener lockeren Geldpolitik der US-Notenbank Fed reagiert, die seinem Land viel billigen Kredit und lukrative Investitionen von außen beschert hatte. Es gab quasi Gratis-Geld en masse. Und es gab Anleger aus den USA, Kanada und der EU, die sich in der Türkei exponierten, weil ihnen die dortige Regierung stabile politische Verhältnisse versprach.

Als Erdogan vor einem guten halben Jahr gegen höhere Zinsen wetterte, traf das Stabilitätsversprechen nur noch bedingt zu. Proteste gegen das Fällen einiger Bäume im Gezi-Park von Istanbul waren innerhalb weniger Tage zu einer landesweiten Massenbewegung angeschwollen. Wer sich anschloss, den störten besonders die Selbstherrlichkeit und das autoritäre Gebaren einer Regierung, deren Chef jedes Vermögen zu kritischer Selbstreflexion eingebüßt zu haben schien. Schon während der Gezi-Krise wirkte Erdogan wie ein Sultan, der erwartet, irgendwann heilig gesprochen zu werden. Seit 2002 mit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an der Macht, empfand er sich als das Beste, was der türkischen Gesellschaft widerfahren konnte und ihr selbstredend erhalten bleiben sollte. Wer das anders sah, stand im Verdacht tückischer Majestätsbeleidigung.

An den Fleischtöpfen

Tatsächlich konnte Erdogan eine beeindruckende Bilanz schwerlich bestritten werden – in seiner Amtszeit war die Infrastruktur modernisiert, der Finanzsektor gegen Einbrüche immunisiert und eine ökonomische Prosperität entfaltet worden, die sich als Gewinn an sozialer Wohlfahrt bemerkbar machte. Zwischen 2002 und 2012 stieg das Pro-Kopf-Einkommen im Schnitt von 3.500 auf 10.500 Dollar, zugleich blieb die Staatsverschuldung moderat und lag Ende 2012 mit 36 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) deutlich unter den teils desaströsen Spitzenwerten in der Eurozone.

Bei alldem hielt sich die AKP zugute, dank ihres islamischen Wertekanons nie den moralischen Anker verloren zu haben. War sie dagegen wirklich gefeit? Im Augenblick wird Tayyip Erdogan durch die eigene Partei eines Besseren belehrt. Und das nachdrücklich. Die AKP selbst hat sich, wie die Schmiergeldaffären im Umgeld der Regierung zeigen, an den Fleischtöpfen des Staates bedient, gern, gründlich und sättigend. Die Beweise für die korrupte Intensität ihrer Günstlinge sind so erdrückend, die Versuche, ermittelnde Staatsanwaltschaften auszuschalten, so offensichtlich, die Anzeichen des sittlichen Verfalls so unübersehbar, dass eine Führungs- und Staatskrise ausgebrochen ist.

Um die abzuwehren, bemüht Erdogan eine nationalistisch-republikanische Rhetorik, wie er sie früher stets geschmäht hat, wenn sich hohe Militärs oder gegnerische Parteien ihrer bedienten. Plötzlich werden die Interessen der AKP gleichgesetzt mit den Interessen des Landes, was kein gutes Zeichen ist. Der Hochmut grenzt an Verblendung, wenn er mit Verschwörungstheorien einher geht, die Erdogan – wie schon während der Gezi-Krise im Mai – mit einer Obsession bemüht, als sei er von Verfolgungswahn befallen.

Verschwörer zuhauf

Und welchen Intrigen des Auslandes sollte die Türkei eigentlich ausgesetzt sein? Gehen sie von Nachbarstaaten wie Iran oder Syrien aus? Will Brüssel Erdogan schwächen, um einen türkischen EU-Beitritt künftig mit Politikern aushandeln zu können, deren demokratischer Leumund weniger zweifelhaft ist als der des jetzigen Ministerpräsidenten?

Hat sich gar die US-Regierung gegen Ankara verschworen? Doch welches Interesse sollte man in Washington daran haben, einen Staat zu destabilisieren, der als NATO-Vorposten an der Grenze zum syrischen Bürgerkrieg nichts weniger braucht als innere Erschütterungen?

Es gäbe natürlich einen Akteur, den der Premier mit seinen Aversionen eindecken könnte. Wenn die US-Notenbank zum Jahresende dabei ist, eine geldpolitische Schubumkehr einzuleiten und sich von ihrer Nullzinspolitik vorsichtig, aber unwiderruflich zu verabschieden, wird auch die Türkei manchen Investor entbehren müssen. Er ist in den vergangenen Jahren viel Geld in kurzfristige Anlagen geflossen, das nun abgezogen werden könnte, sollten in den USA und anderswo wieder bessere Zinskonditionen locken.

Diese Kapitalflucht dürfte noch beschleunigt werden, wenn sich bei Investoren die Überzeugung durchsetzt, einem korrupten Staat und den heraufziehenden unsicheren Verhältnissen besser den Rücken zu kehren. Freilich hätte die Fed für eine solche Absetzbewegung bestenfalls den Anstoß gegeben, ausgelöst hätte sie die türkische Regierung in ihrem jetzigen Zustand selbst.

Also auch diesen externen Verschwörer kann Tayyip Erdogan nicht wirklich haftbar machen. Er wird wohl weiter suchen müssen, wer ihm Übles will. Ob er dabei irgendwann auf sich selbst und der Klientelsystem der AKP stößt? Wenig wahrscheinlich, aber selbstmörderisch, nicht auch dort auf Tätersuche zu sein.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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