Diese Urteil ist ein Politikum. Auch wenn es nicht als solches gedacht sein mag, wirkt es so. Und das Oberste Gericht in Madrid wird sich oder will sich dessen voll bewusst sein. Wie andererseits einem Richterspruch die politische Dimension schwerlich zu bestreiten wäre, hätte die hohe Kammer die angeklagten katalanischen Politiker freigesprochen oder auf Bewährung verurteilt.
In diesem Fall wäre es ein Verständigungsangebot an die katalanische Unabhängigkeitsbewegung gewesen, wie die heute verkündete drakonische Härte mit Haftstrafen zwischen 13 und 9 Jahren einzig und allein zur Kampfansage taugt. Sie ergibt sich nicht etwa daraus, dass es im Oktober 2017 einen bewaffneten Aufstand gegen die Madrider Zentralmacht gegeben hätte, sondern ein Referendum abgehalten wurde, das solange friedlich blieb, bis sich Polizei und Guardia Civil für die Gewalt entschieden. Als sie am 1. Oktober 2017 Wahlbüros stürmten und Wahlhelfer angriffen, geschah das zum Teil in völlig unverhältnismäßiger Weise. Und wurde nie in irgendeiner Weise geahndet.
Mit dem Urteil von Madrid wird zweifellos ein Exempel statuiert, um die Botschaft zu transportieren, wer sich als nationale Minderheit politischer Selbstbestimmung verschreibt und nach seiner Überzeugung handelt, mit dem wird nicht mehr verhandelt. Der wird wie der frühere katalanische Vizepräsident Oriol Junqueras wegen Aufruhr verurteilt und wie die meisten seiner Mitangeklagten für lange Zeit aus dem Verkehr gezogen. Darin offenbart sich ein vormodernes Verständnis von Staatsräson, das dem franquistischen Erbe durchaus gewogen scheint.
Urteil schadet der EU
Sollte die gern reklamierte Unabhängigkeit der Justiz nicht auch in Überparteilichkeit und Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck kommen, statt in den Verdacht zu geraten, wie eine Staatsmacht zu handeln? Eine politische Lösung des Konflikts um den Status Kataloniens jedenfalls rückt am heutigen Tag mehr denn je in weite Ferne. Die Reaktionen der dortigen Bevölkerung, vor allem der Unabhängigkeitsanhänger, werden nicht auf sich warten lassen und kompromisslos sein. Schon ist von „massiver Mobilisierung“ die Rede. Spätestens in der jetzigen Situation wäre eine wie auch immer geartete Koalition zwischen Podemos und dem PSOE unter einem sozialistischen Premier Pedro Sánchez an den konträren Positionen zu diesem Urteil und seinen Folgen zerbrochen.
Einmal mehr schadet die Rigorosität der Obersten Richter in Madrid auch der Europäischen Union. Sie wird nun erst recht Nichteinmischung und Neutralität predigen und sich völlig zu Recht vorwerfen lassen müssen, als Vermittler seit zwei Jahren vollkommen versagt zu haben. Das trotzdem immer wieder bekundete EU-Bekenntnis der Katalanen sollte Brüssel beschämen.
Kommentare 22
Danke für den Beitrag. Vor einem Monat gab es im Freitag diesen Bericht:
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/warten-auf-den-tiefschlag , wo zu lesen war:
"dass die ganze Geschichte mit einer Aufhebung des Urteils durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte enden könnte."
Für wie wahrscheinlich halten Sie dies, Herr Herden?
Ist denkbar, aber im Moment eher unwahrscheinlich. Die Frage ist ja auch, wer gegen das Urteil klagt, die jetzige katalanische Regionalregierung, eine Gruppe von Personen oder eine Einzelperson?
Da das Urteil – wie auch der Artikel hervorhebt – eine mit Kalkül in Szene gesetzte Kampfansage in Richtung der katalanischen Bevölkerung ist, sollte man sich ruhig die dahintersteckenden strategischen Absichten anschauen. Da rational kalkulierende Profis am Werk waren, können das nur zwei sein:
1. Anvisierung einer kolonialistisch abgestuften Form der spanischen Staatsbürgerschaft – ein Staatsverbund also, in dem Kastilien (+ kernspanische Provinzen im Binnenland) die erste Geige spielt und die Provinzen in der Peripherie (im speziellen Katalonien, Baskenland und Andalusien) politisch mehr und mehr an den Rand gedrängt werden.
2. Anvisierung einer neuen Form von Faschismus vermittels einer aufreizenden, nicht hinnehmbaren Provokation der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Sicher wird dies nicht der historisch bekannte der Franco-Ära sein. Da die Neofranquisten in- und außerhalb der Christdemokraten die härtesten Befürworter von Unterdrückungsmaßnahmen in der Peripherie sind, ist es gut möglich, dass das Urteil direkt auf eine dieses Ziel befördernde Eskalation hin ausgelegt ist – mit dem Kalkül, dass in einer entsprechenden Krise vielleicht die Armee eingreift und übernimmt. Eine »demokratische« Variante davon wäre eine – durch ein entsprechendes Wahl-Plebizit gestützte – Rechtsregierung. Ebenfalls nicht unrealistisch: mit den Ciudadanos ist eine genügend nationalchauvinistisch-rechtspopulistisch-marktradikale Gruppierung mit Massengefolgschaft mit am Start – da braucht man die abgetakelten Altfaschisten der diversen Falange-Traditionsvereine vielleicht gar nicht.
Eins und zwei schließen sich nicht aus, sondern sind vielmehr zwei unterschiedliche Aspekte von demselben. Für den Augenblick bleibt folglich nur zu konstatieren: das Urteil leistet – sofern das gefällte Urteil nicht von offenen oder heimlichen Franquisten fabriziert wurde – einer künftigen Rechtsentwicklung und eventuell einer autoritären, faschistischen Lösung Vorschub. Die Reaktion darauf hängt nicht unwesentlich davon ab, wie sich die (außerkatalanische) Linke im Hinblick auf dieses Problem positioniert. Da die letzten zwei Jahre gezeigt haben, dass Nachgeben nur den Rechten genutzt hat, sollte man hoffen, dass PSOE und Podemos mindestens jetzt genug Einsichten gewonnen haben, um zu wissen, dass das »richtige« politische Bündnis nur in Eintracht mit den fortschrittlichen katalanischen Kräften (in- und außerhalb der Unabhängigkeitsbewegung) zu bewerkstelligen ist.
Man darf die Rolle Spaniens in dieser Hinsicht durchaus als Vorreiterolle bei der Entwicklung der EU begreifen. Dass die Justiz längst nicht so unabhängig ist, wie sie eigentlich in einer Demokratie sein sollte, ist hinlänglich bekannt. So sind die sich häufenden skandalösen Urteile (oder die Verschleppung anstehender Prozesse) in der gesamten EU ein deutliches Zeichen...
Sie feiern den Nationalismus.
Das Urteil ist nicht nur "drakonisch", sondern skandalös, da z.B. die ehemaligen Parlamentspräsidentin für die Leitung der Parlamentssitzung in Barcelona und die Durchführung der Abstimmung zur Unabhängigkeitserklärung 11,5 Jahre bekam. Und es gibt eine Menge von Ungereimtheiten, über die jedoch in den ÖR wie heute im DLF kein Wort erkoren wird: keine Beweisvideos für gewaltsamen Aufruhr, keine Rechnungsbelege für den Vorwurf der Veruntreuung, keine Berücksichtigung der Immunität einiger Angeklagter als frei gewählte Mitglieder des Europäischen Parlaments, die Urteile deutscher, belgischer und anderer europäischer Gerichte, die die Vorwürfe von Rebellion und Hochverrat als unbewiesen erklärten. Wer sich intensiver darüber möchte, möge die Artikel von Herrn Streck auf Telepolis dazu lesen.
Von Seiten der EU wird wohl nichts unternommen werden, denn die Parlamentspräsidentschaft schweigt zur Immunität einiger Angeklagter und Frau von der Leyen freut sich auf die künftige Zusammenarbeit mit dem des Insiderhandels und des Betrugs überführten neuen Außenbeauftragten Herrn Borrell, der sich stets mit markigen Sprüchen für eine drakonische Bestrafung der angeklagten Katalanen ausgesprochen hat.
Man stelle sich einmal die Reaktionen der EU und auch der Bundesregierung vor, wenn ein Herrn Nawalny oder ein Herr Wong wegen Aufruhrs zu 13 Jahren verurteilt würden! Aber das wäre ja auch etwas völlig anderes!
*****
"warum dann die alten Fürstentümer und Kleinkönigreiche aufgegeben wurden. Jede Region hätte doch für sich bleiben können."
Vielleicht weil Sie gar nicht gefragt wurden?
Diesen Machteinflussvergrösserungs-Drang kan man ja historisch (Römisches Reich,China, Russland, Osmanen, zuletzt bei "uns", ect.ect. weiträumig belegen.
Nicht immer ist das Streben nach Selbstverwaltung und gewisser Autonomie mit Separatismus gleichzusetzen. Jahrelang wurden den Katalonen immer wieder entsprechende Rechte in Aussicht gestellt, nur um sie ihnen dann zu verwehren und noch mehr einzuschränken. Ich denke, dass gerade die katalonischen Bestrebungen nicht platt als Separatismus abgetan werden sollten, sondern dass man sich mit der Historie und den Zielen der katalonischen Bewegung differenzierter auseinandersetzen sollte.
Möglich. Gut möglich aber auch, dass es niemals zu diesen separatistischen Bestrebungen gekommen wäre, hätte man den Katalanen die in Aussicht gestellten Rechte auch tatsächlich zugestanden.
"wird die Überwindung der Kleinstaatlichkeit gefeiert"
Aber von wem?
„Nationalstaaten sind ein Projekt der Eliten":
https://www.welt.de/geschichte/article183187144/Ende-des-Weltkriegs-Nationalstaaten-sind-ein-Projekt-der-Eliten.html
Diese Träume basierten allerdings auf Zusagen und Vereinbarungen. Natürlich hätten sie wissen müssen, dass auch die Politiker in Madrid dieselbe Glaubwürdigkeit aufweisen wie alle westlichen Politiker.
Na sicher. Aber aus eben diesem Grund erfolgte ja mein Einwand.
@ Lethe und Rebellierender
Man kann sicherlich unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob es sich bei den Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen um Separatismus, Nationalismus, eine Sezession oder um die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechtes handelt. Doch dies alles ändert nichts an der Kritik am Verfahren und an den Urteilen im Prozess gegen die katalanischen Politiker*innen sowie an der Berichterstattung darüber in den ÖR.
Nebenbei bemerkt: Es ist ja erstaunlich, dass die herbeigebombte Unabhängigkeit des Kosovo als Erfolg gewertet und das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland immerhin toleriert wird, während die gleichen Bestrebungen in Katalonien als reaktionär und nationalistisch eingestuft werden.
Und auch nebenbei bemerkt: Die zunehmende Polemik gegen den Nationalstaat, bei der allzu leichtfertig Nationalstaat mit Nationalismus oder gar Chauvinismus gleichgesetzt wird, scheint mir recht blauäugig und gefährlich zu sein. Denn schaut man sich die neoliberalen Alternativen wie die EU, den IWF oder die Weltbank an, erscheint ein föderaler und sozialer Rechtsstaat als Nationalstaat die eindeutig bessere Alternative.
@ Lethe und Rebellierender
Man kann sicherlich unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob es sich bei den Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen um Separatismus, Nationalismus, eine Sezession oder um die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechtes handelt. Doch dies alles ändert nichts an der Kritik am Verfahren und an den Urteilen im Prozess gegen die katalanischen Politiker*innen sowie an der Berichterstattung darüber in den ÖR.
Nebenbei bemerkt: Es ist ja erstaunlich, dass die herbeigebombte Unabhängigkeit des Kosovo als Erfolg gewertet und das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland immerhin toleriert wird, während die gleichen Bestrebungen in Katalonien als reaktionär und nationalistisch eingestuft werden.
Und auch nebenbei bemerkt: Die zunehmende Polemik gegen den Nationalstaat, bei der allzu leichtfertig Nationalstaat mit Nationalismus oder gar Chauvinismus gleichgesetzt wird, scheint mir recht blauäugig und gefährlich zu sein. Denn schaut man sich die neoliberalen Alternativen wie die EU, den IWF oder die Weltbank an, erscheint ein föderaler und sozialer Rechtsstaat als Nationalstaat die eindeutig bessere Alternative.
Warum nur wie die westlichen Politiker. Die östlichen in Russland und China oder auch die südlichen in Afrika sind noch nicht mal im Kommastellenbereich moralischer, besser oder sozialer. Eher noch schlimmer.
Danke, ich kann Ihnen nur zustimmen. Deshalb habe ich ja auch mit dem Hinweis interveniert, nicht alles tumb unter "Separatismus" abzuwerten, sondern eine differenzierte Betrachtung anzustellen.
Nach den erwartbaren Eskalationen nach der Verkündigung der drakonischen Haftstrafen sowie der stetig sich verschärfenden Verbalaufrüstung der zentralspanischen Regierung ist das im Artikel vorgenommene Fazit »Kampfansage« in jeglicher Beziehung gerechtfertigt. Mehr noch: Die (mittlerweile von den Sozialisten gestellte !!) Regierung Spaniens verhält sich gegenüber der Bevölkerung eines wesentlichen Landesteils so, wie sich absolutistische Potentaten zur Zeit der Heiligen Allianz verhalten haben. Nachdem sie den Volksaufstand, der sich mittlerweile anbahnt, seit zwei Jahren kräftig geschürt haben, gilt nunmehr anscheinend das Motto: Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.
Mit anderen Worten: die derzeitige spanische Regierung spricht die Sprache der Aufstandsbekämpfung, des Polizeistaats, letztendlich die des Massakers. Um das Ganze deutlich zu machen, hier eine Übertragung auf deutsche Verhältnisse:
Nehmen wir an, Bayern wollte nicht mehr, und die CSU-geführte Landesregierung hat ein Referendum organisiert zwecks Austritt aus der Bundesrepublik Deutschland. Wegemarken zu einer gütlichen Beilegung des Konflikts hat es gegeben; Merkel (und Scholz und Steinmeier) wollten jedoch nicht und haben zunehmend Polizeikräfte in den Freistaat geschickt. Söder und weitere Spitzen der CSU sind seit dem Referendum interniert; ein Gericht hat nunmehr drakonische Haftstrafen verhängt wegen organisiertem Aufruhr. In Bayern ist seit der Urteilsverkündung die Hölle los; Merkel & Co. legen unterdess noch zwei, drei Schippen drauf, drohen mit militärischer Besetzung, noch mehr Verhaftungen und allgemein mit dem Ausnahmezustand.
Exakt diese Situation ist in Katalonien mittlerweile gegeben. Im Verlauf von kaum mehr als zwei Jahren haben die beiden Regierungschefs Manuel Rajoy und Pedro Sánchez einen politisch beilegbaren Regions-Konflikt hocheskaliert auf das Level eines allgemeinen Volksaufstands. Es gibt innerhalb der EU keinen vergleichbaren Konflikt, bei dem die politisch Verantwortlichen derart ausschließlich auf das Mittel der Gewalt gesetzt haben – ohne jegliche auch nur informell, inoffiziell versandte Geste, die einen Ausstiegswillen aus der Eskalationsschraube signalisiert hätte. Passendes Beispiel in Deutschland wäre der Umgang mit den massiven Bürgerprotesten gegen den Ausbau des Stuttgarter Bahnhofs. Wobei im Fall Katalonien verschärfend hinzukommt, dass die EU den Niederschlagern der katalanischen Proteste politisch, diplomatisch und propagandistisch den Rücken gestärkt hat – anstatt die Macht der EU (und des EU-Parlaments) zu nutzen, um auf eine Lösung am Verhandlungstisch zu drängen.
P. s.: Abbrechbar wäre der zum allgemeinen Aufstand mutierte Konflikt wohl immer noch – die Möglichkeit der Begnadigung und Amnestie ist sicher auch in Spanien existent. Ansonsten wäre spätestens jetzt der Punkt, dass die EU bezüglich des Polizeistaats-Kurses in Spanien auf den Plan tritt. Sollte in Spanien eine Situation eintreten, die mit der in Russland 1905 vergleichbar wäre, würde das Blut von mit Maschinengewehren niedergemähten Zivilist(inn)en ebenso auch an den Händen von Merkel, Tusk, Junker & Co, kleben.
>>...die Möglichkeit der Begnadigung und Amnestie ist sicher auch in Spanien existent.<<
Sánchez hat eine Amnestie bereits abgelehnt, hörte ich gestern im Rundfunk.
Dann hat er sich ja recht schnell festgelegt. Tagesaktuelle Dringlichkeit – speziell bei einem Sich-Festlegen auf Nicht-Amnestie wie im konkreten Fall – ist da weit und breit nicht zu sehen. Was meine These zusätzlich stützt: Die zentralspanischen Verantwortlichen sind letztlich auf Blutvergießen aus.
Ja, man braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustellen worauf das hinauslaufen soll.
Aber mein Fremdschämpotential über die EU ist längst ausgeschöpft.
@ Richard Zietz
Das skandalöse Verhalten der EU-Imstitutionen erklärt sich wahrscheinlich auch durch die Rückenstärkung der spanischen Regierungen unter Rajoi und Sanchez für deren Umsetzung der Austeritätspolitik. Und sie findet ihren Ausdruck in der Verhinderung der Einnahme der EU-Parlamentssitze durch demokratisch gewählte katalanische Abgeordnete, die nach einem rechtlich mehr als fragwürdigen Prozess nun für viele Jahre hinter Gittern sitzen müssen.