Die Welt als Zelt

Diplomatie Die Außenpolitik der Regierung Merkel war zu ideenlos, um im Wahlkampf von Bedeutung zu sein. Ein Neustart ist dringend nötig
Ausgabe 38/2021
Kanzlerin Merkel bei einem Truppenbesuch in Kunduz im Jahr 2013
Kanzlerin Merkel bei einem Truppenbesuch in Kunduz im Jahr 2013

Foto: Kay Nietfeld/Pool/AFP

Der Blick vom westlichen Balkon auf den Rest der Welt fördert Erstaunliches zutage. Lange wurde dem interventionistischen Affen Zucker gegeben, nun jedoch irrt er herum, sucht nach Halt und erinnert an den unternehmungshungrigen Ikarus, dem die Sonne zum Verhängnis wird. Immer schon taugte sein Absturz zu Lektion und Exempel, stets wähnten sich Menschen und Mächte als zu geschichtsmächtig und stark, um deswegen schwach zu werden. Aber sie waren und sind es. Afghanistan liefert einen nächsten Beweis.

Plötzlich hinkt eine übergriffige Weltordnungspolitik erschöpft und demoralisiert ihren Ambitionen hinterher, dass es sogar der deutschen Verteidigungsministerin auffällt. Und dann reicht schon ein Gerücht über russischen Support für die Regierung in Bamako, um für die Bundeswehr in Mali afghanische Lösungen anzudeuten. Gerät der Wille zur Fremdbestimmung fremder Gesellschaften in Verruf? Zweifellos ein Unterfangen, das in den betroffenen Weltgegenden mehr Widerstand provoziert, als Eroberer und Erzieher auf Dauer verkraften. Zumal die Bereitschaft zu Risiko und Opfer auf Schlachtfeldern weit draußen vor der Tür den postheroischen Gesellschaften des Westens längst fremd wurde. Der militärische Zugriff auf andere Staaten mag als temporärer Kraftakt gelingen, doch fehlt der lange Atem zum Krieg. Auch ist es dem westlichen Selbstbild wenig zuträglich, Auskünfte über die eigene Verwundbarkeit ausgerechnet bei den Taliban und damit einem Gegner einzuholen, dem man sich in jeder Hinsicht überlegen glaubt.

Insofern gäbe es Gründe zuhauf, wollte Deutschland seine Außen- und Sicherheitspolitik einer Generalinventur anvertrauen. Erst recht, wenn eine Bundestagswahl nahelegt, dies öffentlich zu tun. Schließlich kann es niemandem entgangen sein, dass die Vereinigen Staaten als NATO-Führungsmacht auch unter Joe Biden der Trump-Devise folgen: Europas Krisen sind nur noch bedingt Amerikas Konflikte. Behelligt uns nicht über Gebühr.

Der Westen hat sich als Block und Bastion keinen Gefallen getan, als er nach 1990 der Versuchung erlag, eine Epochenwende schadlos überstehen zu wollen. Wie soeben Frankreich brüskiert und aus einem Rüstungsgeschäft mit Australien entfernt wird, damit den USA eine indopazifische Allianz gegen China in den Schoß fällt, spricht Bände. Partner wie Handlanger zu behandeln, ist ein todsicheres Mittel, sich ihrer zu entledigen. Wohl dem, der bei solcherart Crash im Beziehungsgefüge auf eine souveräne Außenpolitik zurückgreifen kann, die das diplomatische Handwerk schätzt und um Beinfreiheit bemüht ist.

Deutschland fällt nicht darunter. Es beweint seinen Ikarus, statt nach bekömmlichen Höhenflügen Ausschau zu halten. Der internationale Ertrag des letzten Kabinetts Merkel ist mit Begriffen wie Stagnation und Status quo erschöpfend beschrieben und zu belanglos, um peinlich zu sein. Das Verhältnis zu Russland wirkt gestörter, als es 2017 bereits war. Der Ukraine-Konflikt ist zwar eingefroren, aber weit davon entfernt, gelöst zu sein. In der EU beschreibt innere Zerrissenheit einen Normalzustand, dem allein pandemiebedingter Pragmatismus Zügel anlegt. In Syrien hat sich der von mehreren Bundesregierungen betriebene und nach Kräften unterstützte „regime change“ vorerst erledigt. Für die Palästinenser ist der nicht zuletzt von Deutschland in Aussicht gestellte Staat irrealer denn je. Ziele wie Abrüstung und Rüstungskontrolle scheinen auf den Index geraten. Überlebenshilfe für das Nuklearabkommen mit dem Iran bleibt Stückwerk. Gegenüber den USA waltet eine illusionäre Vasallentreue, die so weit geht, mit einer deutschen Fregatte im Indopazifik China erschrecken zu wollen.

Und wer es wie Russland wagt, seinen Interessen Geltung zu verschaffen, wird gemaßregelt, bedroht, bestraft und mit Sanktionen belegt. Dazu passt ein Außenminister, der weniger als Diplomat besticht denn als Hohepriester einer schwarzen Pädagogik in Erscheinung tritt. Was mit Traditionen bricht. Willy Brandt mit seiner Ostpolitik, Helmut Schmidt durch die Affinität zu Frankreich (Giscard d’Estaing) und zur Weltökonomie, Helmut Kohl dank eines Prestiges als Europäer, Gerhard Schröder mit der Skepsis zur bellizistischen Hybris der Bush-Administration (Irak) und dem Verständnis gegenüber Russland – sie alle hielten in ihren auswärtigen Beziehungen die Ideologie auf Abstand, sobald daraus eine Fessel zu werden drohte.

Bei Angela Merkel ist das Gegenteil eingetreten: Je ideenloser sie agierte, desto ideologischer wurde es. Weil die SPD daran Anteil haben wollte und sich mit Heiko Maas eine Fehlbesetzung vom Feinsten leistete, umweht ihren Wahlkampf so wenig Welt wie möglich. Schwer vorstellbar, von Olaf Scholz einen Satz zu hören wie: Die globale Risikogesellschaft, deren Teil wir allein wegen der Klima-Erosion sind, kann nicht beherrscht werden, sie will moderiert sein – was sich als Westen versteht, muss das lernen.

Zu entkommen wäre dem obwaltenden Hochmut nur, wenn es die staatstragende politische Klasse dieses Landes für geraten hielte, sich selbst zu entkommen und dem Glauben abzuschwören: Die Welt ist mein Ebenbild oder ist es nicht wert, mein Ebenbild zu sein. Allerdings brauchte dies einen Sinnes- und Mentalitätswandel, wie es ihn seit 1949 noch nie gab. Dennoch sollte Ikarus endlich in Frieden ruhen.

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