Bis zum Überdruss wurde eben noch in Sachen Michail Gorbatschow der Satz zitiert: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die Europäische Zentralbank (EZB) hat gerade 342 Millionen Menschen innerhalb der Eurozone bestraft, weil sie zu spät kommt, um der Inflation Zügel anzulegen. Oder zu spät kommen wollte? Erst versuchte EZB-Präsidentin Christine Lagarde die grassierende Geldentwertung durch Nichtstun zu bewältigen. Dann der gewagte Streich. Mit dem Leitzins geht es um 75 Basispunkte auf 1,25 Prozent bergauf, der größte Zinsschritt seit Einführung des Euro wird zum Zinsschnitt. Wie nennt man das? Finanzpolitik nach dem Prinzip Zauberlehrling? Welche Geister wir auch rufen, beherrschen können wir sie kaum.
Jedenfalls ist diese Zinswende vorerst unumstößlich. Alles andere würde eine Rückkehr zu annehmbarer Geldwertstabilität in der Eurozone wie der EU unterlaufen. Indirekt hat das die EZB selbst eingeräumt, wenn sie für 2023 von einer andauernden Geldentwertung im Euroraum um sechs Prozent ausgeht – optimistisch geschätzt. Kommt es zur Stagflation, der toxischen Mischung aus Stagnation und Inflation, werden sich ein mangelndes Güterangebot und gestörte Lieferketten gegenseitig befeuern. Abgesehen von den Energiepreisen, den unverwüstlichen Inflationstreibern, die sich noch lange nicht verausgabt haben.
Auch deshalb führt kein Weg mehr zurück. Selbst bei Wachstumseinbrüchen, mehr Arbeitslosigkeit und ausufernder Schuldenlast von Eurostaaten ist das Nullzins-Jahrzehnt vorbei. Die US-Zentralbank Fed spurt vor, sie hat mit ihrer Zinsentscheidung von Ende Juli, einem Anheben des Leitzinses auf eine Spanne von 2,25 bis 2,5 Prozent (!), schneller und konsequenter reagiert als die EZB. Fed-Präsident Jerome Powell wird den Demokraten vor den Zwischenwahlen am 8. November nicht den Gefallen tun, das monetäre Pedal wieder durchzutreten. So wenig wie Christine Lagarde das tun kann. Sie würde Kapitalströme zusätzlich beschleunigen, die ihr Heil im Dollar suchen. Was viel mit dem niedrigsten Kurs des Euro gegenüber der US-Währung seit 20 Jahren zu tun hat. Dem Dollar gereicht außer der Fed die relative Stabilität des US-Binnenmarktes zum Vorteil, der nicht einmal ansatzweise solcher Selbstbeschädigung durch die Russland-Sanktionen ausgesetzt ist wie der europäische. Auch weil das unübersehbar ist, hätte das EZB-Direktorium nicht bis zum 8. September mit seinem Zinssprung warten dürfen. Allein für Deutschland werden mit einem schwachen Euro eben nicht zuerst Warenausfuhren billiger, sondern Energieeinfuhren teurer. Der Exportweltmeister begegnet sich als Stabilitätsverlierer. Und wird im Übrigen noch erfahren, dass auch staatliche Entlastungspakete der Inflation zu Diensten sind, begleiten sie nicht staatliche Eingriffe bei der Preisbildung, beim Energiesoll etwa, das jeder braucht, um ohne Entbehrung zu leben.
Jedoch wäre es verfehlt, Unterlassungssünden einer Zentralbank als Sabotageakte zu deuten. Sie sind vor allem Eingeständnisse. Die Währungsunion bleibt ein fragiles Gebilde. Die Eurokrise wurde durch Mario Draghis freigiebige Nonchalance vorübergehend aus dem Verkehr gezogen, nicht stillgelegt. Christine Lagarde muss sich nur Frankreichs Rekordschulden von 2,9 Billionen Euro oder 115 Prozent des Bruttoinlandsproduktes vor Augen halten. Vielleicht hat sie deshalb eine Zinswende verschreckt.
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