Nur der Krieg kann den Krieg beenden«, gibt der tschetschenische Rebellengeneral Schamil Basajew Anfang Oktober 1996 zu Protokoll, nachdem es gerade einen Monat her ist, dass mit dem »Vertrag von Chasawjurt« der erste Tschetschenien-Krieg beendet wird. Seine russischen Gegenspieler - vorzugsweise ranghohe Militärs - hören ihm genau zu und warten darauf, Basajew beim Wort nehmen zu können. Als der im August 1999 mit Guerilla-Einheiten nach Dagestan vorstößt, erscheint das wie ein Angebot, auf Krieg wieder mit Krieg zu antworten - die zweite, bis heute andauernde Schlacht um den Südkaukasus beginnt.
Während in den folgenden Wochen russische Verbände erneut auf Grosny vorrücken, schickt Anna Politkovskaja als Korrespondentin der Nowaja Gaseta ihre ersten Reportagen vom Kriegsschauplatz an die Redaktion in Moskau. Sie schreibt über ein verwüstetes Land und über verwüstete Menschen auf beiden Seiten einer zumeist unsichtbaren Front - auf dem Treck und in den Kanzeln der die Trecks angreifenden Hubschrauber.
Politkovskajas Beobachtungen aus drei Jahren Krieg, verdichtet zu einer Chronik der Apokalypse, liegen nun in Buchform vor. Dirk Sager, langjähriger Russlandkorrespondent des ZDF, versieht in seinem Vorwort die Nowaja Gaseta mit dem Label unabhängige Oppositionspresse, während die Autorin selbst in ihrem Report zu verstehen gibt, dass ihre Berichte den Lesern der Zeitung oft nur in »zumutbarer« Dosierung zuteil wurden. Die so auferlegten Beschränkungen mögen eine Erklärung für die Unerbittlichkeit sein, mit der Anna Politkovskaja in ihrem Buch Episode für Episode einen von mittelalterlicher Grausamkeit geprägten Krieg abbildet. Sie erinnert mit der Wucht des unmittelbar Erlebten an einen regionalen Krieg, der seit dem 11. September 2001 in Westeuropa bestenfalls noch als elegisch vor sich hin köchelnder regionaler Konflikt wahrgenommen wird. Seit jenem Tag steht die russische Armee zwischen Grosny und Gudermes bekanntlich nicht mehr allein einer schlagkräftigen Guerilla gegenüber, sondern zugleich in einer weltweiten Abwehrschlacht gegen den Terrorismus. Der Kampf um den Kaukasus hat die Weihen des globalen Kraftaktes erfahren. Russland und Amerika beschießen in Afghanistan und Tschetschenien den gleichen Feind. Wer Osama bin Laden zum Satan erklärt, kann Schamil Basajew nicht zum Messias verklären. Bei soviel Logik der Politik müssen Kriege nicht um ihre Existenz fürchten, Völker schon.
Politkovskaja stößt überall in Tschetschenien auf Menschen, die Lemuren gleich aus Erdlöchern auftauchen und dorthin verschwinden und doch hoffen, irgendwann den verlorenen Faden des Lebens wiederaufnehmen zu können. »Es ist nicht mehr zu übersehen«, schreibt sie, »wie weit die eigentliche tschetschenische Mentalität bereits zerstört ist, wie das Menschliche in den Menschen zertreten und pervertiert ist durch Krieg und Hunger ...« Wer zwischen Ruinen und Ratten auf die nächste Ausgabe von Lebensmitteln wartet und sonst nichts, lebt nur noch, um den nächsten Tag zu überstehen. Besonders an den Stellen des Reports, die dem Leidensweg der Flüchtlingen gewidmet sind, entsteht ein Bewusstsein für die Langzeitfolgen der Katastrophe. Allerdings verzichten Politovskajas Abbilder von der Kettenreaktion des Elends auf jede Andeutung, wie einmal bewältigt werden könnte, was bewältigt werden muss. Auch die Interessen »eines pro-militaristischen und neo-sowjetischen russischen Staates unter Wladimir Putin« (Politkovskaja) lassen es früher oder später geraten erscheinen, nach einem Ausweg zu suchen. Hier bleibt die Autorin Gedanken schuldig, die ein Vorschlag sein könnten. Doch wer nur anklagt, analysiert zu wenig.
Politkovskaja porträtiert das heutige Russland mit kräftigen, derben Strichen. Charakterisiert ist es damit nur bedingt. Mit Etikettierungen wie »nationale Schande« und »marodierende Armee« dichtet sie ein allein auf den Fundamenten von Moral und Abscheu errichtetes Glashaus ab. Wie ein Findling aus einer Welt, die es nicht gibt, schaut die andere Welt im Osten daraus herüber. Erwartungsgemäß wird der Schaden beklagt, der mit diesem Krieg der »jungen russischen Demokratie« zufügt wird. Man fragt sich nur, wann eigentlich wurde dieses offenbar äußerst abgeschieden heranwachsende Geschöpf je gesichtet? Als Boris Jelzin im Dezember 1991 durch den »Vertag vom Bjelowesher Wald« zusammen mit dem Ukrainer Krawtschuk und dem Weißrussen Schuschkewitsch (beide damals Staatschefs ihrer Republiken) die UdSSR per Federstrich auflöste, nachdem sich erst am 17. März des gleichen Jahres bei einem landesweiten Referendum 76 Prozent für deren Erhalt ausgesprochen hatten? Oder im Oktober 1993, als Jelzin die aufbegehrende Duma zusammenschießen ließ?
Politkovskaja konfrontiert den politischen Anspruch ihres Staates mit seinem um keine Repressalie verlegenen Militärregime in Tschetschenien. Sie übersieht aber, wie sich bei Extremsituationen in der Regel der autoritäre Kern und eben nicht die demokratische Substanz eines Systems offenbart. Gleichfalls ausgeblendet wird der Umstand, dass die andere Seite ihrem russischen Widerpart wenig schuldig bleibt. Tschetscheniens 1990 ausgerufener erster Präsident Dschochar Dudajew war General der sowjetische Luftwaffe in Estland und sah die Unabhängigkeit seines Landes stets als eine vorrangig militärische Affäre. Sein Nachfolger Selimchan Jandarbijew träumte von einer radikalislamischen Ordnung nach dem Muster Saudi-Arabiens. Und das nach dem ersten Tschetschenien-Krieg 1996/97 errichtete fundamentalistische Wahhabiten-Regime des Premierministers Basajew sorgte mit der Schariat-Rechtsprechung dafür, dass wieder öffentlich hingerichtet werden konnte. Wahrlich keine Sternstunde der Zivilisation.
So liest sich dieses Buch nicht nur wie eine Bestandsaufnahme der Unverträglichkeit zweier Völker und Kulturen, es trägt leider auch dazu bei, dass sich darauf berufende Feindbilder an Schärfe und Kontur gewinnen. Nur erschwert eben moralischer Rigorismus jede politische Lösung. Für den »Fall Tschetschenien« gibt es eine Gewissheit, die nicht auf ewig ignoriert werden kann - eine tschetschenische Revolution wird den russischen Staat nicht aus der Welt werfen. Der wiederum wird das kleine Land am Südosthang des Kaukasus erst freigeben, wenn ein solcher Schritt mehr Vorteile verspricht als der Status quo - das kann man begreifen, daran kann man aber auch verbluten.
Anna Politkovskaja: Tschetschenien - Die Wahrheit über den Krieg. DuMont, Köln 2003, 336 S., 16,90 EUR
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