Seine Berater kicherten, als Ronald Reagan am 11. August 1984 mehr als sonst zum Scherzen aufgelegt war. Techniker des Senders CBS hatten um eine Sprechprobe vor der Aufzeichnung einer Rundfunkrede gebeten. Und der US-Präsident tat ihnen den Gefallen: „Liebe Landsleute, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen heute mitzuteilen, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten.“ Das von Reagan auf seiner kalifornischen Ranch und im Holzfällerhemd den Sowjets locker zugedachte nukleare Armageddon blieb nicht geheim. Die Sprechblase drehte eine Ehrenrunde um die ganze Welt und ließ nicht nur in Moskau fragen, ob dieser Präsident noch alle Tassen im Schrank hatte und von der Absicht besessen war, ein bereits schwer gestörtes Verhältnis zur UdSSR durch den Wolf zu drehen.
Immerhin hielten sich Anfang der 1980er NATO und Warschauer Pakt durch in Mitteleuropa auf beiden Seiten der Systemgrenze stationierte Kurz- und Mittelstreckenraketen in Schach und Atem. Die Vorwarnzeiten schrumpften, in denen sich irrtümlich erteilte Angriffsbefehle korrigieren ließen. Was in Moskau ebenfalls beunruhigte, war die Absicht der Reagan-Administration, eine Raketenabwehr im Weltraum zu platzieren. Die Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) drohte den 1972 zwischen Washington und Moskau geschlossenen ABM-Vertrag zu unterlaufen. Das Abkommen hatte beiden Atommächten jeweils zwei Abwehrsysteme (später nur noch eines) zugestanden, um vor einem nuklearen Erstschlag abzuschrecken. Wer den riskierte, sollte weitgehend schutzlos dem unvermeidlichen Gegenschlag ausgeliefert sein. Reagans „Krieg der Sterne“ legte es darauf an, diese Basis strategischer Parität zu zerstören. Insofern hatte seine Halluzination am offenen Mikro einen realen Hintergrund und Michail Gorbatschow als neuer KPdSU-Generalsekretär Grund, diesen Präsidenten zu meiden.
Nur wie sollte die „Perestroika“ international Tritt fassen, wenn nicht durch ein entkrampftes Verhältnis zu den USA? Gorbatschow betrachtete die Außenpolitik weniger als Beiwerk seines Reformwillens denn als Beweis desselben, auch weil sich damit Vorkehrungen gegen innenpolitische Misslichkeiten treffen ließen. Zudem war er 20 Jahre jünger als der damals 74-jährige Reagan und prädestiniert, bei einem möglichen Treffen den eloquenten Erneuerer zu geben, der einen erzkonservativen Traditionalisten herausfordert und Vorleistungen nicht scheut. Bevor am 19./20. November 1985 nach langem Tauziehen ein Gipfel in Genf seine Bühne fand, hatte der langjährige, stets prosaisch gestimmte Außenminister Gromyko abdanken und Eduard Schewardnadse weichen müssen. Der wirkte als neuer Chefdiplomat irritierend neu, war er doch bis zum Ruf nach Moskau Innenminister Georgiens.
Das Statement überrascht
Dass Gorbatschow in Genf gegenüber Reagan auf dem Verbot von Waffen im Weltraum beharrte, verhinderte ein Kommuniqué. Da man aber nicht sprachlos voneinander scheiden wollte, kam eine Gemeinsame Erklärung zustande, in der unerwartet der beidseitige Wille zum Verzicht auf 50 Prozent der Kernwaffenarsenale anklang, weil „ein Atomkrieg niemals ausgefochten werden darf“. Das Bekenntnis ließ aufhorchen, schließlich hatte Reagan die Sowjetunion bis dato als „Reich des Bösen“ geschmäht, dem man nicht trauen könne.
Zwischen Joe Biden und Wladimir Putin sind solche Überraschungen bei ihrem Genfer Gipfel kaum zu erwarten. Zwar scheint dem jetzigen US-Präsidenten die Vorliebe für das Tenue eines Holzfällers fremd, doch ist er wie Reagan ein Veteran des Kalten Krieges. In Putin trifft er auf einen Politiker, der im Unterschied zu Gorbatschow keinerlei Illusionen über westliches Entgegenkommen pflegt und in der Überzeugung verhandelt, dass die derzeitige ideologische Frontbildung gegen Russland ausgeprägter ist als die Einheit des Westens, sind nationale Interessen aufgerufen. Man wird sich abtasten und austauschen, ohne auf Übereinkünfte bedacht zu sein. Eine Gemeinsame Erklärung wie 1985 ist kaum zu erwarten. Seinerzeit hatte sich auf einem solchen Statement trotz aller Differenzen aufbauen lassen.
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