Diplomatische Fiktion

Türkei/Deutschland So irrational die Tiraden aus Ankara klingen, so reparabel sind die angerichteten Schäden
Ausgabe 12/2017
AKP-Werbung in Istanbul: „Eine Nation, eine Flagge, eine Regierung, eine Heimat“
AKP-Werbung in Istanbul: „Eine Nation, eine Flagge, eine Regierung, eine Heimat“

Foto: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

Recep Tayyip Erdoğan schmäht Angela Merkel, als sei man unwiderruflich auf einem Kriegspfad ohne Wiederkehr. Wer verbrannte Erde hinterlässt, wo eben noch verbissene Koexistenz galt, kann der jemals wieder satisfaktionsfähig sein? Mutmaßlich schon. Auch in diesem Augenblick. So irrational die Tiraden des Präsidenten und seiner Paladine anmuten – nichts von dem, was sie anrichten, ist irreparabel. Allein die Macht der geopolitischen Fakten schützt die Türkei davor, wie ein failed state à la Libyen gesehen zu werden. Mit dem Land zwischen Europa, Asien und Arabien bewahrt oder verliert die EU ein Bollwerk gegen den nahöstlichen Krisenbogen, der vom Iran über Syrien bis zur ägyptischen Sinai-Halbinsel reicht. Und noch ist die Türkei, von Ausnahmen abgesehen, keine Transitschleuse für gewaltbereiten Islamismus, den es nach Europa zieht und dessen Möglichkeiten längst nicht ausgereizt scheinen.

Erdoğan und die AKP verkörpern mit ihrer Politisierung des Islam eine derart wirkungsmächtige Strömung an der Grenze zwischen Okzident und Orient, dass davon Verhaltensnormen des politischen Seins viel gravierender in Frage gestellt werden als durch Auftritte prominenter Politiker. Die AKP hat ohnehin alle Auftritte von Ministern in Deutschland abgesagt. Mit dem Projekt Präsidialautokratie soll kein Staat reformiert, sondern ein System radikalisiert werden. Die exklusive Macht eines Souveräns wird die Gewaltenteilung aufheben – und einem Einparteienstaat Vorschub leisten, wenn dieser Staatschef zugleich eine Partei führen darf. Statt eines Premierministers sind Vizepräsidenten vorgesehen, die wiederum wer berufen darf?

Dass Erdoğan für eine solche Zäsur die türkische Diaspora in Europa vereinnahmen will, um sich beim Referendum am 16. April eine Mehrheit zu sichern, ist das eine. Ob sich 1,4 Millionen stimmberechtigte Türken in Deutschland, 325.000 in Frankreich, 255.000 in den Niederlanden oder 140.000 in Belgien dafür vereinnahmen lassen, das andere – sprich: ein die innere Verfassung dieser Staaten tangierendes Phänomen. Insofern erscheint es nachvollziehbar, wenn Bundesregierung, Bundesländer wie kommunale Behörden ihr Haus- über das Gastrecht türkischer Politiker stellen. Nur löst das die Kernfrage nicht einmal ansatzweise. Sie lautet: Wer Erdoğan als Partner in der NATO hält, muss der ihn nicht auch als Hassprediger ertragen? Oder anders gefragt: Sind die substanziellen Affinitäten im deutsch-türkischen Verhältnis so stark, dass ihnen der rhetorische Affront letzten Endes nichts anhaben kann?

Legt man das Kriterium Wertekompatibilität zugrunde, wären andere Reaktionen fällig als verbotene Werbetouren für AKP-Größen. Auch wenn sich die AKP und der Islamische Staat (IS) in ihren Methoden unterscheiden, so doch nicht im Motiv – der Islamisierung von Staatlichkeit. Das heißt in der Konsequenz, versteht sich die NATO noch als westliche Allianz, hat die Türkei darin nichts mehr zu suchen. Nur werden im Bündnis mitnichten Stimmen laut, das Mitglied am Bosporus zu verstoßen.

Bindung statt Bruch

Woran es der deutschen Türkei-Politik fehlt, das sind adäquate Umgangsformen, mit denen auf die Entfremdung reagiert wird. Statt danach zu suchen, wird seit 2005 eine diplomatische Fiktion bedient und „ergebnisoffen“ über einen EU-Beitritt der Türkei verhandelt. Längst steht außer Frage, dass es den in absehbarer Zeit nicht geben wird. Umso mehr wäre über Alternativen (Stichwort Umgangsformen) nachzudenken, etwa eine assoziierte Partnerschaft, wie sie mit einigen postsowjetischen Staaten vereinbart ist und ökonomisch attraktiv sein kann. Wozu hat Brüssel bisher „Heranführungsbeihilfen“ an Ankara überwiesen, deren Dimension beeindruckt? 4,8 Milliarden Euro waren es von 2007 bis 2013; 4,45 Milliarden sollen es noch bis 2020 sein, für die Infrastruktur wie den Ausbau des Rechtsstaates. Diese Investitionen verlangen nach politischer Dividende, auf die aber nur rechnen darf, wer die Bindungen an Ankara dem Bruch vorzieht. Weil der ein Geschenk an Erdoğan wäre. Niemand wüsste daraus mehr propagandistisches Kapital zu schlagen. Es genügt, die verletzte Würde einer stolzen Nation anzuprangern, und Millionen lassen sich mitreißen. Abzuschreiben wäre die Türkei aber deshalb auf keinen Fall.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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