Kanzlerin Merkel fand sich für kurze Zeit in einer Gesellschaft wieder, die ungewohnt war, aber alles andere als unehrenhaft. Als sie beim G20-Gipfel in St. Petersburg zu der von den USA intendierten Erklärung über eine „harte internationale Reaktion“ auf den mutmaßlichen Giftgas-Einsatz im syrischen Bürgerkrieg zunächst auf Distanz ging, stand sie an der Seite aller fünf BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), aber auch von Indonesien, Nigeria und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Es gab ein 10 : 10-Patt bei den G20. Zehn Mitgliedsstaaten gewährten Obama politischen Beistand für seinen militärischen Aktionismus. Die andere Hälfte lehnte das entweder aus Überzeugung ab oder hielt sich wie Deutschland aus Vorsicht bedeckt.
Wer da beklagte, die Bundesregierung sei dabei, sich zu isolieren, verkannte die Lage. Und das gründlich. Immerhin hat Angela Merkel nur 24 Stunden später widerrufen. Nach dem Treffen der 28-EU-Außenminister in Vilnius wurde das Versäumte nachgeholt, die Seite wieder gewechselt und Obama einer bekennenden Gefolgschaft versichert. Merkel sitzt nun wieder in einem Boot mit Frankreich, Großbritannien und Spanien, deren Regierungen den aggressiven Anti-Assad-Kurs der US-Regierung gutheißen und anfeuern. Will sie das auch? Eigentlich nicht und eigentlich doch. Tut sie das überhaupt? Eigentlich nicht und eigentlich doch. Die Kanzlerin hat an der Newa nur verzögert, was längst feststand. Ihre Haltung besteht darin, keine zu haben: Nach außen hin abwarten, ohne die Amerikaner zu brüskieren. Eine Intervention nicht grundsätzlich verwerfen, aber einen aktiven deutschen Part ausschließen. Was natürlich nicht stimmt. Mit den Patriot-Batterien in der Türkei – einem Frontstaat zu Syrien – ist die Bundeswehr sehr wohl verwickelt. Sollte sich Premier Erdogan als Waffenbruder der Amerikaner exponieren und syrische Gegenmaßnahmen provozieren – was dann?
Es fehlt der Mut
Merkels chamäleonhaftes Geplänkel folgt – was sonst? – wahltaktischem Kalkül. Schließlich besagen alle Umfragen: In Deutschland gibt es ein ähnliches Stimmungsbild wie in den USA, geprägt von Skepsis bis hin zur Aversion gegenüber kriegerischen Handlungen. Bei aller vorherrschenden politischen Indifferenz hat sich hierzulande offenbar herumgesprochen, dass Bündnistreue gegenüber den Vereinigten Staaten im Moment nur dazu gut ist, Prestige und Glaubwürdigkeit ihres Präsidenten zu retten. Obama hat sich in eine solch prekäre Lage manövriert, dass ihm gar der US-Kongress aus dem Ruder zu laufen droht. Er greift in seiner Not zu den absurdesten Vergleichen: Syrien 2013 erinnere ihn an Ruanda 1994. Man könnte über diesen Unsinn den Kopf schütteln und es gut sein lassen, wäre nicht die manipulative Absicht so verwerflich.
Wer will für eine solche Hybis und Demagogie eigene Soldaten opfern? Angela Merkel sicher nicht, aber es fehlt ihr der Mut, dies laut zu sagen und mit der verlogenen Propaganda-Kampagne des Weißen Hauses zu begründen.
Helfen stattdessen Abtauchen und Abwarten? Das erscheint zweifelhaft. Es sind politische Kollateralschäden dieses Lavierens denkbar, die sich aus den militärischen Kollateralschäden einer Beschießung Syriens ergeben können – und kurz vor der Bundestagswahl nicht folgenlos bleiben müssen. Erste Bilder von zerbombten syrischen Wohnvierteln, unter Trümmern verschüttete, erstickte oder verbrannte Menschen werden Wirkung hinterlassen. Sie können die Frage nach der Verantwortung provozieren. Merkels Gegner im Wahlkampf werden sich dies kaum entgehen lassen und sagen: Wer ständig einen „politischen Prozess“ beschwört, aber nichts dafür tut, dass es den gibt – zum Beispiel bei einer Genfer Syrien-Konferenz – trägt Mitschuld an den zivilen Opfern. Der hat versagt.
Gnädiges Gedächtnis
Die Interventionsbefürworter in der EU sind klar im Abwind, über David Camerons Debakel im britischen Unterhaus muss nicht weiter geredet werden. Seine Abstimmungsniederlage hat Obama gezwungen, vor dem Angriffsbefehl den Umweg über den Kongress zu nehmen. Frankreichs Präsident Hollande wird im eigenen Land heftig kritisiert, weil er sich von Anfang an viel zu weit aus dem Fenster gelehnt hat, um Assad die Toten-Glocken zu läuten. Eine sonderbare Kühnheit, die auf ein gnädiges Gedächtnis vertraut, das ausblendet, wie sich die französische Kolonialmacht einst in Syrien bis zu dessen Unabhängigkeit 1946 aufgeführt hat – wie sie nach dem bewährten Prinzip des Teile und Herrsche die alewitische Minderheit gegenüber der sunnitischen Mehrheit privilegiert und im Offizierskorps einer Nationalarmee verankert hat.
Was wäre verwegen daran, wollte die deutsche Kanzlerin in dieser Situation für Europa die zivilisatorische Karte spielen und die Falken aus den eigenen Reihen in die Schranken zu weisen? Für Merkel vermutlich jedes Wort.
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