Nun ist es so weit, dass ein NATO-Staat einen NATO-Staat mit Sanktionen belegt. Will heißen, die USA verstoßen die Türkei mit der Begründung aus dem F-35-Kampfjet-Programm, deren Regierung habe mit dem Kauf des russischen S-400-Abwehrsystems gegen die Bündnisräson verstoßen. Die bestehe unter anderem darin, sich grundsätzlich von den Waffen strategischer Gegner fernzuhalten. Die daraufhin verhängten Strafmaßnahmen schaden besonders türkischen Unternehmen, die bisher Partner von US-Firmen beim Bau der Lockheed-Martin-Maschine F-35 waren und sich nun ebenso suspendiert finden wie türkische Piloten, deren Training auf F-35-Jets ein jähes Ende hat.
Dabei muss es mit dieser Züchtigung nicht getan sein, da nach dem 2017 vom US-Kongress beschlossenen Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA-Gesetz) ein Staat mit mindestens fünf Sanktionen belegt werden kann, sofern er mit „Feinden Amerikas“ kooperiert. Woran sich auch dann nichts ändern ließe, sollte die türkische Luftverteidigung vorerst darauf verzichten, die bereits eingetroffenen Komponenten des russischen Systems zu installieren und in Dienst zu stellen. Allerdings wäre ein solch defensives Verhalten dem Nachweis strategischer Souveränität wenig zuträglich, auf die es Ankara schließlich ankommt. Die Regionalmacht Türkei will durch moderne Abfangraketen ihre Verwundbarkeit in einer Krieg und Krisen ausgelieferten Umgebung minimieren, ohne mit diesem Begehren auf die NATO angewiesen zu sein. Ganz abgesehen davon, dass sich die so erworbene Autonomie für eine Syrien-Politik Ankaras auszahlen soll, die mit den Interessen Russlands korrespondiert, sobald es um die staatliche Integrität des südlichen Nachbarn geht. Die garantiert für Präsident Putin eine geostrategisch relevante Präsenz im Nahen Osten sowie eine dauerhafte Rückkehr in die Weltpolitik – für Präsident Erdoğan hingegen ist der Staatserhalt in Syrien vor allem eine Gewähr, um staatsähnliche Entitäten der Kurden in Nordsyrien zu verhindern. Die könnten das Muster der kurdischen Selbstbestimmung im Nordirak kopieren und die Kurden in Südostanatolien anspornen, es ähnlich zu halten.
Das heißt, gemessen an den Ambitionen Recep Tayyip Erdoğans bei Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges im März 2011, als auf einen Regimewechsel in Damaskus gesetzt und auf ein Mandat für die neoosmanische Schutzmacht Türkei gehofft wurde, genießt nunmehr die „Kurdenfrage“ Vorrang. Es entspräche diesem Paradigmenwechsel, würde das russische Abwehrsystem im Großraum Ankara, etwa auf der Air Base Mürted, stationiert und nicht im Südosten an der Grenze zu Syrien. Verteidigung seiner selbst statt Bedrohung von anderen, so die Devise.
Auf jeden Fall ist der Streit über russische Raketen im NATO-Revier geeignet, das Phänomen wechselnder Allianzen in den Blick zu rücken, die in der Regel taktischer Natur und für jähe Wendungen prädestiniert sind. Sie spiegeln – trotz mancher Camouflage – elementare Interessen von Staaten, sind Vorboten geopolitischer Inventuren und können Bündnisloyalitäten abschwächen oder ganz negieren. Nirgendwo sonst haben wechselnde Prioritäten bei der Beziehungspflege eine derart nachhaltige und eindrucksvolle Tradition wie im Nahen Osten. Als dort vor hundert Jahren das Osmanische Reich abgewickelt und aufgeteilt wurde, sorgte eine Zweckallianz zwischen Frankreich, Großbritannien und Italien auf der Konferenz von Versailles (1919) und dem Nachfolgetreffen von Sèvres (1920) für territoriale Schnittmuster, um von Nordafrika bis in den Mittlern Osten Staaten zu gründen und Grenzen zu ziehen.
Insofern sind starre Bündnisse für die Region seit jeher die Ausnahme. Und Wechselfieber weckt die Lebensgeister, was im konkreten Fall dadurch zum Ausdruck kommt, dass der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar bereits angedeutet hat, man denke auch über den Erwerb von Patriot-Abwehrraketen nach. Und die sind wiederum amerikanischer Herkunft.
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