Ein Hoffnungsschimmer, immerhin

Bolivien Sollte in dem Land tatsächlich ein linker Präsident antreten, wäre das ein Regierungswechsel, keine Machtverschiebung
Ausgabe 43/2020
Der Präsidentschaftskandidat der bolivianischen Sozialisten, Luis Arce, bei einer Wahlkampfveranstaltung im Oktober
Der Präsidentschaftskandidat der bolivianischen Sozialisten, Luis Arce, bei einer Wahlkampfveranstaltung im Oktober

Foto: Brito Miserocchi/Getty Images

Weder kehrt der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ urplötzlich nach Lateinamerika zurück, noch ist dem Subkontinent ein Linksschwenk beschieden. Sollte in Bolivien mit Luis Arce tatsächlich erneut ein linker Präsident antreten – bei Redaktionsschluss dauerte die Auszählung noch an –, gibt es einen Regierungswechsel, keine regionale Machtverschiebung. Mehr Hoffnungsschimmer als Hoffnungszeichen.

Dennoch erhärtet sich der Eindruck, dass die fast 15 Jahre des indigenen Staatschefs Evo Morales in der indigenen Bevölkerung Spuren hinterließen. Kaum anzunehmen, dass Arce und sein Movimiento al Socialismo (MAS) ihre Stimmen vorrangig unter den Weißen und Mestizen des Tieflandes, in den Departamentos Santa Cruz oder Beni holten. Sollte die indigene Community den Ausschlag gegeben haben, wäre das auch ein Sieg für Evo Morales, aller Verfemung durch seine Feinde zum Trotz. Indem er der autochthonen Bevölkerung stets mit größtem Respekt begegnete, wurde sie in dem Bewusstsein bestärkt, dass der bolivianische Staat auch ihre Heimstatt ist. Und es allzeit bleiben sollte. Insofern könnte Luis Arce geerntet haben, was gesät wurde, auch durch ihn, den einstigen Wirtschaftsminister. Unwillkürlich erinnert man sich der letzten Rundfunkansprache des chilenischen Sozialisten und Präsidenten Salvador Allende. Am 11. September 1973, kurz vor seinem Tod, als Bomben der Putschisten auf seinen Amtssitz La Moneda fielen, wollte er mit der Hoffnung sterben, „dass nichts verhindern kann, dass die von uns in das würdige Gewissen von Tausenden und Abertausenden Chilenen ausgebrachte Saat aufgehen wird“. Offenbar konnte die rechte Übergangsregierung in La Paz das „würdige Gewissen“ von Abertausenden Bolivianerinnen und Bolivianern nicht erschüttern.

Wahrscheinlich war sie sich dessen sogar bewusst. Warum sonst blieb nach dem Morales-Sturz vor einem Jahr die 2009 durch einen Volksentscheid gutgeheißene Verfassung unangetastet? Darin wird gebündelt, was die Reformen der Morales-Jahre hervorgebracht haben. In dieser Magna Charta ist von einem „plurinationalen Staat“ ebenso die Rede wie von Autarkie und sozialen Rechten aller ethnischen Gemeinschaften, von Trennung zwischen Staat und Kirche oder staatlicher Kontrolle über die Ausbeutung von Ressourcen wie Erdgas und Lithium.

Luis Arce kann sich darauf berufen, doch muss er Abstand halten, vorerst wohl auch zu Morales. Er kann nicht dort fortfahren, wo der am 11. November 2019 aufhören musste, als er ins Flugzeug stieg, um ins Exil nach Mexiko zu fliegen. Der ehemalige hatte sich zu sehr als ewiger Präsident Boliviens empfunden. Was denen zugutekam, die auf seine Person zielten, um deren Politik zu treffen – eine teils offen rassistische weiße Bourgeoisie, die Armeeführung um General Kaliman, das Kartell nationalrevolutionärer bis rechtskonservativer Parteien, die sich mit Begriffen wie Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung und Legitimität getarnt hatten, um über das illegitime Mandat von Interimspräsidentin Jeanine Áñez hinwegzutäuschen.

Der MAS hat darauf reagiert, indem er sich im Jahr der irregulären Macht zuweilen als außerparlamentarische Opposition verstand und der Straße anvertraute. Vielleicht war das ein Grund dafür, dass Jeanine Áñez und Ex-Präsident Carlos Mesa, der ebenfalls kandidierte, das Ergebnis für Arce schnell anerkannten. Sie wollten keinen Aufruhr riskieren.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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