So sieht man sich selbst wieder. Ein Erkennen müsste garantiert sein. Wie es Kanzlerin Merkel während der Eurokrise gefiel, schwer angeschlagene, von ökonomischem Abstieg bedrohte Eurostaaten mit Auflagen zu traktieren, die erfüllt sein wollten, bevor es Geld gab, haben nun der Niederländer Mark Rutte und der Österreicher Sebastian Kurz diesen Part übernommen. Sie achteten beim EU-Sondergipfel in Brüssel darauf, dass Beteiligte zu Bittstellern wurden, die sich künftig verdienen müssen, was sie bekommen. Ob das Deutschland missfiel, ist zu bezweifeln. Es passt zum Austeritätsdogma, dem schon beim Eurokrisenmanagement im vergangenen Jahrzehnt Gnadenakte suspekt erschienen.
Fast ist es müßig, über die Gipfelausbeute, sprich: das letztlich ausgehandelte Verhältnis von Zuschüssen und Krediten, zu urteilen, die aus dem 750-Milliarden-Euro-Corona-Fonds verabreicht werden. Bleiben 390 Milliarden Euro an nicht rückzahlungspflichtigen Zuwendungen übrig, sind das weniger als 2,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU, das im Vorjahr bei 13,9 Billionen Euro lag. Nicht unbedingt eine Größenordnung, die darauf hoffen lässt, dass die oft das Existenzielle berührenden sozialen Folgen der Pandemie für Millionen Menschen gemildert werden.
Worin besteht, davon abgesehen, der maßgebliche Eindruck, den dieser Vier-Tage-Gipfel hinterlässt? Es war viel politische Wilderei im Spiel, die über das Gehege der Europa-Idealisten hereinbrach. Als sollte für alle Zeit der Nachweis erbracht werden: Die EU ist keine Solidargemeinschaft, sondern ein Zweckverband kühl kalkulierender Regierungschefs. Sie kann in ihre Bestandteile zerfallen, wenn sie als Einheit gefragt ist. Wie seit 2010 der Großschuldner Griechenland mussten nun Italien, Spanien, Kroatien und Frankreich als Hauptleidtragende der Pandemie erfahren, dass Hilfsbedürftigkeit für einen schlechten Leumund sorgt. Wenn sich Dänemark, Schweden, Österreich, die Niederlande und Finnland gerierten, als sollte mit dem Hilfsfonds ihr Geld in der nächsten Pfütze versenkt werden, war das an Hochmut kaum zu übertreffen. Dieses Verhalten stempelte EU-Partner zu anrüchigen Kostgängern, denen das Maul gestopft gehört, aber nicht zu üppig. Die EU wurde verstümmelt, und zwar gründlich, weil bis zur Kenntlichkeit. Man erfuhr, was der Wertekanon „wert“ ist, wenn es darauf ankommt, danach zu handeln. Hat die EU dadurch an ideologischer Mitte eingebüßt, so galt das in den Tagen von Brüssel erst recht für ihr historisches Zentrum. Die Führungsmächte Deutschland und Frankreich mussten erfahren, erstaunlich machtlos zu sein, wenn der Drang nach Vetomacht und Dissens ihrem Führungswillen und wie auch immer gearteten Führungsqualitäten Grenzen setzt. Angela Merkel und Emmanuel Macron ist die gewohnte Durchsetzungskraft zeitweilig zwischen den Fingern zerronnen. Sie sekundierten dem Zerfall, statt Mentoren des Einvernehmens zu sein. Und das bis in die letzte Gipfelnacht hinein.
Vom Zollverein zur Freihandelszone zur Wirtschaftsgemeinschaft zur Währungsunion – die EU und ihre Vorgänger sind in mehr als 60 Jahren erstaunlich weit vorangekommen. Man wähnte sich lange auf der Schwelle zur Politischen Union und als Globaler Player im Kommen. Alles schien sich bewähren und beweisen zu wollen. Dann ist es tatsächlich so weit, und die USA und China erfahren, dass dieser Rivale mehr Phantom als gefährlich ist.
Kommentare 6
aus herrn herden spricht das gebrochene herz, das damals,
als das DDR-system kollabierte, dem kein gnädige hilfe von irgendwo
zuteil wurde, zu bluten begann.
seine vorstellung vom "eigenen" staat und seiner politik
wurde zertreten:
dieser entpuppte sich als tödlich-verletztes ideal-bild, zerstörte ikone,
das von anderen puren "zweck-verbänden" kein solidarisches zubrot erhielt.
(auch mitterands hilfe stellte sich als sehr begrenzt heraus).
seitdem gilt ihm das bedauern um isoliert-dastehende,
schlecht-geführte staaten als humane pflicht.
aber er steht damit nicht allein.
Die politisch/mediale Idealisierung der Europäischen Gemeinschaft, dem Phantom, wie Lutz Herden sie zutreffend charakterisiert, ist nicht mehr als ein zweckdienliches Narrativ, für die Organisation des Reichtums zulasten der jeweils Schwächeren. Austeritätsprogramme in Verbindung mit Schuldenbremsen dienen der Zerstörung sozialer Sicherungssysteme, auf die Bevölkerungen angewiesen sind, und dem Ausverkauf des Tafelsilbers zu Gunsten der monetären Machthaber.
Das Ganze ist ein Machwerk, das zudem die kriminellen Energien dieser monetären Machthaber großzügig belohnt. Den referenziellen Bezug stellt die die 50-Billionen-US-Dollar-Sause dieser Spezies dar, nur noch getoppt von verkommenen Zerstörungskriegen des supranationalen Angriffsbündnisses der westlichen Wertegemeinschaft. Dann waren die europäischen Nationen in ihrer Brothers-In-Arms-Mentalität nicht zu überbieten.
Und so halten sie es auch letztlich auch im Binnenverhältnis: Sie fallen übereinander her und lassen sich dafür noch mit einem Friedensnobelpreis dekorieren. Für „für über sechs Jahrzehnte Beitrag zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa“.
Thema Europäische Gemeinschaft
Europäische Union vs. Bürger
EU: Ein Kartell der europäischen Regierungen
EU-Friedensnobelpreis für das supranationale Angriffsbündnis
die "zerstörung sozialer sicherungs-systeme", deren fehlender aufbau
ist nicht nur der organisations-schwäche der betroffenen zuzurechnen,
sondern oft mangelnder produktivität/miß-wirtschaft geschuldet.
gouvernementale korruption/verderbnis ist mit aus-hilfen nicht abzustellen.
aber schnell ist das schreckens-bild über-natürlicher mächte des bösen gezeichnet:
nicht gerade ein ansporn für sozial-praktische besserung.
Sie wissen doch, dass ich systemisch denke unter Einbeziehung von Genese und Situationsanalyse.
Die hier agierenden Personen sind politische Mandatsträger mit dem Auftrag, ein Gemeinwesen zu organisieren, doch sie verstehen sich als das Personal der monetären Machthaber und agieren auch so.
Es wäre sinnvoll, Ihre Replik an DIESE Adresse zu richten.
Als sollte für alle Zeit der Nachweis erbracht werden: Die EU ist keine Solidargemeinschaft, sondern ein Zweckverband kühl kalkulierender Regierungschefs.
Ich wäre mit einem Zweckverband absolut einverstanden. Wenn sie gemeinsame Interessen klug vertreten und erkennen, dass reine Konkurrenz und Gegnerschaft nichts bringen, wäre das schon o.k. Fakt ist, dass die Selbstdarstellung mancher Regierungschefs einem den Glauben an die Vernunft nehmen können.
"Dann ist es tatsächlich so weit, und die USA und China erfahren, dass dieser Rivale mehr Phantom als gefährlich ist."
Lese ich da klammheimliche Großmacht-Wünsche? Was sollte uns ein "Global Player" namens EU nützen? Wir können uns doch glücklich schätzen, dass das europäische Kapital so zerstritten ist. Dennoch ist auch dieser Gipfel ein kleiner Schritt auf dem Weg. Schlecht wäre aber, wenn wir verpassen, beizeiten europäischen Widerstand zu etablieren.