Ein Tauglichkeitstest

Sondergipfel Wer Hilfe braucht, hat in der EU nicht den besten Ruf
Ausgabe 30/2020
Vom Zollverein zur Freihandelszone zur Wirtschaftsgemeinschaft zur Währungsunion – die EU und ihre Vorgänger sind in mehr als 60 Jahren erstaunlich weit vorangekommen
Vom Zollverein zur Freihandelszone zur Wirtschaftsgemeinschaft zur Währungsunion – die EU und ihre Vorgänger sind in mehr als 60 Jahren erstaunlich weit vorangekommen

Foto: Kenzo Tribouillard/AFP/Getty Images

So sieht man sich selbst wieder. Ein Erkennen müsste garantiert sein. Wie es Kanzlerin Merkel während der Eurokrise gefiel, schwer angeschlagene, von ökonomischem Abstieg bedrohte Eurostaaten mit Auflagen zu traktieren, die erfüllt sein wollten, bevor es Geld gab, haben nun der Niederländer Mark Rutte und der Österreicher Sebastian Kurz diesen Part übernommen. Sie achteten beim EU-Sondergipfel in Brüssel darauf, dass Beteiligte zu Bittstellern wurden, die sich künftig verdienen müssen, was sie bekommen. Ob das Deutschland missfiel, ist zu bezweifeln. Es passt zum Austeritätsdogma, dem schon beim Eurokrisenmanagement im vergangenen Jahrzehnt Gnadenakte suspekt erschienen.

Fast ist es müßig, über die Gipfelausbeute, sprich: das letztlich ausgehandelte Verhältnis von Zuschüssen und Krediten, zu urteilen, die aus dem 750-Milliarden-Euro-Corona-Fonds verabreicht werden. Bleiben 390 Milliarden Euro an nicht rückzahlungspflichtigen Zuwendungen übrig, sind das weniger als 2,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU, das im Vorjahr bei 13,9 Billionen Euro lag. Nicht unbedingt eine Größenordnung, die darauf hoffen lässt, dass die oft das Existenzielle berührenden sozialen Folgen der Pandemie für Millionen Menschen gemildert werden.

Worin besteht, davon abgesehen, der maßgebliche Eindruck, den dieser Vier-Tage-Gipfel hinterlässt? Es war viel politische Wilderei im Spiel, die über das Gehege der Europa-Idealisten hereinbrach. Als sollte für alle Zeit der Nachweis erbracht werden: Die EU ist keine Solidargemeinschaft, sondern ein Zweckverband kühl kalkulierender Regierungschefs. Sie kann in ihre Bestandteile zerfallen, wenn sie als Einheit gefragt ist. Wie seit 2010 der Großschuldner Griechenland mussten nun Italien, Spanien, Kroatien und Frankreich als Hauptleidtragende der Pandemie erfahren, dass Hilfsbedürftigkeit für einen schlechten Leumund sorgt. Wenn sich Dänemark, Schweden, Österreich, die Niederlande und Finnland gerierten, als sollte mit dem Hilfsfonds ihr Geld in der nächsten Pfütze versenkt werden, war das an Hochmut kaum zu übertreffen. Dieses Verhalten stempelte EU-Partner zu anrüchigen Kostgängern, denen das Maul gestopft gehört, aber nicht zu üppig. Die EU wurde verstümmelt, und zwar gründlich, weil bis zur Kenntlichkeit. Man erfuhr, was der Wertekanon „wert“ ist, wenn es darauf ankommt, danach zu handeln. Hat die EU dadurch an ideologischer Mitte eingebüßt, so galt das in den Tagen von Brüssel erst recht für ihr historisches Zentrum. Die Führungsmächte Deutschland und Frankreich mussten erfahren, erstaunlich machtlos zu sein, wenn der Drang nach Vetomacht und Dissens ihrem Führungswillen und wie auch immer gearteten Führungsqualitäten Grenzen setzt. Angela Merkel und Emmanuel Macron ist die gewohnte Durchsetzungskraft zeitweilig zwischen den Fingern zerronnen. Sie sekundierten dem Zerfall, statt Mentoren des Einvernehmens zu sein. Und das bis in die letzte Gipfelnacht hinein.

Vom Zollverein zur Freihandelszone zur Wirtschaftsgemeinschaft zur Währungsunion – die EU und ihre Vorgänger sind in mehr als 60 Jahren erstaunlich weit vorangekommen. Man wähnte sich lange auf der Schwelle zur Politischen Union und als Globaler Player im Kommen. Alles schien sich bewähren und beweisen zu wollen. Dann ist es tatsächlich so weit, und die USA und China erfahren, dass dieser Rivale mehr Phantom als gefährlich ist.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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