Es ist bei einer Wahlbeteiligung von gut 32 Prozent beim Referendum über den EU-Assoziierungsvertrag mit der Ukraine kein überragendes Resultat für die niederländische Nein-Kampagne. Doch mit 62 Prozent Nein-Stimmen gab es ein klares und bestürzendes Ergebnis für die EU. Damit wird das vereinte Europa von der lange schwelenden Identitäts- in eine veritable Existenzkrise gestürzt.
Es sind keine drei Monate mehr, dann werden die Briten am 23. Juni über Sein oder Nichtsein in der EU abstimmen. Das Brexit-Lager auf der Insel wird sich durch den 6. April in den Niederlanden bestärkt fühlen. Wie sich nationale Voten mit europäischem Kontext gegenseitig beeinflussen können, zeigte sich zuletzt im Frühsommer vor elf Jahren, als
;hsommer vor elf Jahren, als am 29. Mai 2005 zunächst in Frankreich eine Mehrheit von 55 Prozent den europäischen Verfassungsvertrag ablehnte (Wahlbeteiligung 70 Prozent!). Drei Tage später waren es beim Plebiszit in den Niederlanden aus gleichem Anlass 61,4 Prozent, die sich einer Magna Charta für die EU verweigerten bei einem Anteil der Ja-Stimmen von lediglich 38,4 Prozent (Wahlbeteiligung gut 63 Prozent). Dass nun der Assoziierungsvertrag mit der Ukraine in einem Gründerstaat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG, dem EG- bzw. EU-Vorläufer, auf wenig Gegenliebe stößt, ist wegen zunächst marginaler praktischer Folgen eher ein symbolischer Vorgang. Der aber hat es in sich und passt vorzüglich zu einem Abkommen, bei dem politischer Symbolismus einen hohen Stellenwert genießt. Die EU hat sich mit diersem Vertrag als geopolitischer Akteur zu erkennen gegeben, der die Landkarte des Kontinents zu verändern vermag wie seit den jugoslawischen Bürgerkriegen zwischen 1991 und 1999 nicht mehr. Es handelt sich um den Versuch, tiefer denn je in die postsowjetische Staatenwelt vorzudringen, die Ukraine russischem Einfluss weitgehend zu entziehen und für das westliche System zu vereinnahmen. Wegen des dadurch ausgelösten Interessenkonflikts mit Russland kann es sich nur um einen aggressiven Vorposten des Westens im Osten Europas handeln – ein abenteuerliches Kalkül, dem die realpolitische Contenance fehlt, um es vorsichtig auszudrücken. Wie sehr diese Politik gescheitert ist, lässt sich am Zustand der Ukraine wie ihrer derzeitigen Führung ablesen. Das Land ist ohne westliche Alimentierung im Prinzip bankrott, und der unter den Geldgebern als Freiheitsikone gehandelte Staatschef Poroschenko erweist sich einmal mehr als raffender Oligarch, wie den sogenannten Panama-Papieren zu entnehmen ist. Kraft des Faktischen Keine Frage, mit der Volksabstimmung wollte in den Niederlanden die starke rechtspopulistische Flanke ein prinzipiell EU-skeptisches oder gar -nihilistisches Signal geben. Dafür hätten sich auch andere Anlässe hätten finden lassen. Ungeachtet dessen besagt das Ergebnis dieses Votums: Viele Niederländer wollen sich nicht für eine Politik vereinnahmen lassen, die zu einem Dauerkonflikt mit Russland führt. Dessen konfrontative Zwänge bleiben schon das dritte Jahr in Folge bestehen. Sie wirken mit einer Kraft des Faktischen (EU-Handelsembargo, kriegerische Zustände und Zerstörung in der Ostukraine), wie man das beim Ausbruch dieses derzeit kaum lösbaren, nur einzudämmenden Konfliktes kaum annehmen konnte. Vor der Abstimmung wurde in den Niederlanden die Annahme laut, der Assoziierungsvertrag sei Vorstufe für eine ukrainische Vollmitgliedschaft in der EU. Letzten Endes auch in der NATO, womit sich die westliche Allianz auf ein Dasein Grenze an Grenze mit Russland einrichten würde. Mit welchen Konsequenzen? Mit welchem Fundus an Eskalationspotenzial? Welcher Strategie der NATO? EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wurde zuletzt nicht müde zu beteuern, eine EU- oder NATO-Aufnahme der Ukraine stehe "für die nächsten 25 Jahre nicht an". Nur, wie schnell ergreift politische Prozesse, bei denen die geostrategische Balance tangiert wird, eine Eigendynamik, die sich rationaler Steuerung verweigert? Für die USA – ab Januar 2017 vielleicht unter einer Präsidentin Hillary Clinton – wäre ein NATO-Eintritt der Ukraine nicht nur ein "gewisses Risiko". Eine solche Osterweiterung hätte eine ungemein disziplinierende Wirkung auf die EU, die sich entweder Washington widersetzen oder sich auf einen Dauerkonflikt mit Russland einlassen müsste. Zu viel Murks Es scheint momentan gesetzt, welchem Stimmungstest sich die EU auch aussetzt – dass sie dabei durchfällt, scheint so gut wie sicher, wofür es viele Gründe gibt. Die wachsende Anziehungskraft und Deutungsmacht rechtspopulistischer Bewegungen ist einer davon. Sie spiegeln so viel Zeitgeist, dass sie fast spielend den öffentlichen Raum beherrschen, der nicht mit dem medialen zu verwechseln ist, ersteren aber maßgeblich prägt, je größer der Kontrast zwischen beiden ist. Die Initiative in den Niederlanden lag nicht bei der Freiheitspartei von Geert Wilders, sondern dem Blog Geen Stijl (Kein Anstand), der für das Referendum mehr als 300.000 Unterschriften sammelte und sich viel Gehör verschaffte. Derartige Filialen der Widerständigen und Verbitterungsmilieus gibt es heute in nahezu allen EU-Ländern. Sie profitieren nicht zuletzt von diffusen politischen Entscheidungen in der EU, die den versprochenen Erfolg schuldig bleiben, sei es in der Ukraine-Frage, der Griechenland-Krise oder der Flüchtlingspolitik Man erwartet schon keine überzeugenden Lösungen mehr, schlichte handwerkliche Kompetenz würde reichen. Wo findet sich die beim EU-Türkei-Pakt zur Flüchtlingsregulierung?Es wird vor und nach dem Brexit-Referendum sicher noch viel davon zu reden sein. Schon jetzt aber sollte man eines zur Kenntnis nehmen: die teils vehemente Verteidigung nationaler Identität in den meisten EU-Ländern wie der Wille zu kultureller Autonomie sind keine temporären Rückfalle in verflossene Zeiten, sondern eine Restauration europäischer Normalität, zu der Rassismus, Xenophobie, Nötigung, Mord und Totschlag gehören können. Die große Metamorphose, wie sie 1945 nach zwei verheerenden Weltkriegen irreversibel schien, hat an Nachhaltigkeit ausgerechnet dann verloren, als Europa nach 1990 vereinter denn je zu sein schien.