Auf der Überholspur

EU-Erweiterung Mit dem Kandidatenstatus für Kiew verlagert sich Kerneuropa von West nach Ost. Die Konsequenzen werden zu wenig diskutiert
Ausgabe 25/2022
Rot-blau-weiß wären die Farben, wollte Ursula von der Leyen eine EU-Aufnahme Serbiens in analoger Garderobe feiern
Rot-blau-weiß wären die Farben, wollte Ursula von der Leyen eine EU-Aufnahme Serbiens in analoger Garderobe feiern

Foto: Kenzi Tribouillard/AFP/Getty Images

Wird sie wie die Türkei behandelt, ist die Ukraine auch 2044 noch kein EU-Mitglied. Das Land an der Trennlinie zwischen Europa und Nahost erhielt 1999 den Kandidatenstatus. Das ist 23 Jahre her, ohne dass Ankara angesichts eines verlässlich stockenden Aufnahmeverfahrens auch nur in die Nähe einer Mitgliedschaft geraten wäre. Das Dilemma hatte sich abgezeichnet, als die damalige EU-Kommissionsspitze nicht in die Nationalfarben der Türkei gewandet die anstehenden Beitrittsverhandlungen verkündete.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wollte es diesmal besser machen, sie stellte Pathos und Parteilichkeit aus und erschien in gelber Jacke mit blauer Bluse, um am 17. Juni in Brüssel zu empfehlen, Kiew mit dem Kandidatenstatus zu bedenken. Da die EU-Zentrale den Ukraine-Krieg offenbar als geopolitische Feuertaufe begreift, muss die Kampfansage an Russland bis in die letzte Faser ihres Spitzenpersonals reichen.

Die Frage ist nur, wird sich der Staatenbund wiedererkennen, sollte die Zeit der Verkleidungen einmal vorbei und wieder eine Realitäten statt Staffagen und Stimmungen verhaftete Politik gefragt sein? Zweifel sind angebracht. Vorausgesetzt der Europäische Rat folgt der Kommission, wird die EU erstmals in ihrer Geschichte einem Land im Kriegszustand den Kandidatenstatus verleihen. Bis auf Weiteres wird damit so gut wie jede Entscheidung daran gemessen, wie sie den Krieg beeinflusst, ob sie der ukrainischen Führung nutzt oder schadet. Das kappt Handlungsfreiheit, das kostet nicht zuletzt Glaubwürdigkeit gegenüber Anwärtern, die gleichfalls Einlass begehren.

Weiterhin in der Warteschleife

Allein die Westbalkan-Staaten, die länger als ein Jahrzehnt in der Warteschleife kreisen, werden es hinnehmen müssen, an Priorität zu verlieren. Es wäre ein Politikum sondergleichen, würde Serbien mit seinen traditionellen Beziehungen zu Russland vor der Ukraine zum EU-Vollmitglied geschlagen. Das wiederum bedeutet, die „gesetzten“ Bewerber Albanien, Nordmazedonien und Montenegro, dazu die „potenziellen“ Bosnien-Herzegowina und Kosovo, müssen auf Serbien warten. Belgrad wäre schwer brüskiert, sollte es allein draußen bleiben, um der Ukraine den Vortritt zu lassen.

Gab es für den Westbalkan bisher keine seriöse Beitrittsprognose, erscheint die nun so vage wie nie. Dabei ist das mit der Ukraine veränderte Ranking der Aspiranten mitnichten „symbolisch“, sondern höchst real. Bewerber wie Georgien bleiben völlig suspendiert, während Moldawien mit seinem Kandidatenstatus davon profitiert, dass Brüssel den Präzedenzfall Ukraine nicht nur als Ausnahmefall etikettiert sehen will.

Für die EU ist nach mehr als drei Monaten Ukraine-Krieg eines unverkennbar: Kerneuropa verlagert sich von West nach Ost. Wenn noch keine verdeckte Dominanz, ist doch ein verstärkter Geltungswille Lettlands, Litauens, Estlands, vorrangig Polens vorhanden, die beim Thema Ukraine inzwischen über eine beachtliche Deutungsmacht verfügen. Etablierte Führungsmächte wie Deutschland und Frankreich sind nicht gewillt oder nicht fähig, dem Schleppnetz der Vereinnahmung zu entkommen. Im Gegenteil, sie müssen größte Vorsicht walten lassen. So zogen es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italien-Premier Mario Draghi vor, in Kiew an der Seite des rumänischen Staatschefs Klaus Johannis aufzutauchen. Die West-Ost-Optik half, den Eindruck zu vermeiden, ein Triumvirat aus Westeuropa werde bei Wolodymyr Selenskyj vorstellig und trage vor, was es für geboten hält. Es ist schlichtweg nicht mehr opportun, eigene Interessen zu vertreten, indem mit der Kriegslogik gebrochen wird.

Wo bleiben die europäischen Werte?

Kaum überraschend hat Anfang Juni die EU-Kommission zu verstehen gegeben, dass sie auf europäische Werte sehr wohl verzichten kann. Es gibt keinen Rechtsstaatsvorbehalt mehr, wenn Polen nunmehr mit 35,4 Milliarden Euro die erste Tranche an Corona-Hilfsgeldern erhält. Kommissionspräsidentin von der Leyen setzt sich mit der Freigabe über den Einspruch von Vizekommissionschef Frans Timmermans und Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hinweg. Was zählt, ist nicht länger die Politisierung der Justiz durch die Regierung in Warschau, sondern die Frontstellung Polens gegen Russland. Das Junktim Corona-Hilfen gegen rechtsstaatliche Verhältnisse, wie es noch Ende 2020 Beschlusslage eines EU-Gipfels war, hat ausgesorgt. Schließlich garantiert die polnische PiS-Regierung den wichtigsten Transitraum für westlichen Waffennachschub Richtung Ukraine. Sie gibt mit ressentimentgeladener Rhetorik den Ton gegenüber Moskau vor, denunziert Diplomatie als Kapitulation und findet in den USA den gewohnten Rückhalt. Das Land beherbergt zudem 3,5 Millionen ukrainische Flüchtlinge, die vorerst nicht weiter nach Mitteleuropa, z.B. Deutschland, ziehen.

Polen legt sich als Klassensprecher einer EU-Filiale Osteuropa ins Zeug, die zum Block werden kann, sollte eine Ukraine im EU-Wartestand und Kriegszustand den Verbund komplettieren. Das Gewicht dieser Staatengruppe dürfte es unmöglich machen, gegen ihren Willen eine Position in der EU durchzusetzen. Die Osterweiterung erweist sich als das, was sie potenziell immer war – ein Einfallstor zur Selbstdemontage der EU, die umso überforderter ist, je überdehnter und diffuser sie wird.

Falls die Ukraine zum Vollmitglied aufsteigt – und wer weiß schon, ob das wirklich in weiter Ferne liegt –, wird sie durch ihre Größe, ihren Opferstatus, ein kompromisslos konfrontatives Verhältnis zu Russland und die Erfordernisse des Wiederaufbaus die EU-Politik im Osten (und nicht nur dort) markieren. Bei Erhalt des Einstimmigkeitsprinzips läuft das auf Vetomacht hinaus. Es also besser abschaffen? Freilich könnte das nur einstimmig geschehen. Warum sollten kleine, leicht majorisierbare Mitgliedsstaaten das wollen?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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