Die Auszeichnung kommt Ende 2012 eher unerwartet. Inmitten der Eurokrise kann sich die EU einer seelsorgerischen Streichel-Einheit des Osloer Preiskomitees erfreuen, wird ihr doch der Friedensnobelpreis zuerkannt. Die Überraschung in Brüssel und anderswo bezeugt Verunsicherung: Haben wir verdient, was uns widerfährt? Welcher Verhaltenskodex ist künftig einem derart Geehrten auferlegt? Schließlich unterliegen Friedensnobelpreisträger permanenter Prüfung, wie das US-Präsident Barack Obama erfahren muss, als ihm 2009 die gleiche Auszeichnung in den Schoß fällt. Die EU habe in Europa den Konflikt durch das Recht ersetzt, heißt es in der Begründung aus Oslo. Dies verdiene auf einem Kontinent besonders gewürdigt zu werden, der jahrhundertelang durch Kriege verwüstet worden sei wie kein anderer.
Wird die EU diesem Werturteil gerecht, seit die Ukraine-Krise ausgebrochen ist und das Zeug zum kontinentalen Fleischwolf hat? Anders formuliert: Beschäftigte den Wahlkampf um das EU-Parlament (EP) die Frage, warum der Friedensnobelpreisträger als Friedensstifter versagt hat? Es kann doch kein Zufall sein, dass die notorisch vernachlässigte OSZE statt der nobilitierten EU als Vermittler in Aktion tritt. Und das alternativlos. Wenn über der Ukraine das Damoklesschwert eines Bürgerkrieges schwebt, dem syrische Dimensionen winken, hätte das die Wahlkämpfer in den letzten Wochen aufschrecken müssen wie nichts sonst. Was konnte geeigneter sein, die Europawahl vom Stigma des Beiläufigen zu erlösen?
Burgfriede sei mit uns
Stattdessen ist von den Frontmännern der beiden großen Parteienfamilien – der Europäischen Volkspartei (EVP) wie der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) – nur zu hören, mit Sanktionen, notfalls harten, lasse sich Russland zur Räson bringen. Zwei Spitzenkandidaten, von denen der Ruf ausgeht, sie seien Spitzenpolitiker, verschwinden in den großen Schuhen eines Nobelpreisträgers, um als Jean-Claude Juncker und Martin Schulz wieder aufzutauchen. Sie bleiben das ihren Mandatsanspruch begründende Konzept schuldig, wie mit einer West-Ost-Konfrontation umzugehen ist, die es seit 1990 so nicht gegeben hat. Sie lassen verstehen, weshalb Europawahlen ein Schattendasein fristen. Wie sollte es anders sein, wenn Schicksalsfragen der europäischen Friedensordnung wie der Umgang mit Russland zu Randfragen schrumpfen? Die europäische Demokratie muss ja verkümmern, solange Themen marginalisiert oder ausgeblendet bleiben, um derentwillen sie gebraucht wird.
Dazu gehört ebenso der soziale Schwindsucht, zu der die Eurokrise seit 2008 in etlichen Staaten der Währungsunion geführt hat. Unter dem Vorwand der Krisenbewältigung hat sich die EU in einen Subkontinent der Austeriät verwandelt, auf dem gewählte Regierungen Souveränität preisgeben und stupiden Kürzungsorgien zustimmen. In Griechenland, Portugal, Spanien, Irland, Zypern und Slowenien haben die Diktate einer Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF einen ohnehin bereits stagnierenden Lebensstandards auf teils existenzbedrohende Weise gesenkt. Auch das hat den Rechtsextremen Gehör verschafft. In Großbritannien sorgten konservative und liberale Koalitionäre sogar ganz allein dafür, ohne Zutun der Troika.
Vor diesem Hintergrund wirkt das „Experiment“ mit den Spitzenkandidaten wie biedere Hausmannskost, die einem schon deshalb den Geschmack verdirbt, weil es zwischen dem 22. und 25. Mai keine Direktwahl von Personen gibt. Zudem tritt mit der Paarung Schulz gegen Juncker das arrivierte gegen das arrivierte Europa an, ein Duell ohne entschlossene Duellanten. Was nicht verwundert. Angesichts des erwarteten Vormarschs EU-skeptischer, teils rechtsnationalistischer, teils faschistoider Parteien dürften Sozial- und Christdemokraten im nächsten EP zur Cohabitation der Vernunft gezwungen sein. Es erscheint also wenig ratsam, im Wahlkampf Wasser in den großkoalitionären Wein zu gießen, das sich dann nicht wieder heraus schütten lässt. Wir sind Europäer, erst dann politische Gegner, heißt die Devise. Der Burgfriede sei mit uns.
Wenn freilich Schulz und Juncker – statt die Klingen zu kreuzen – nur damit herumfuchteln, fühlt sich das Publikum genarrt und geht. Oder kommt gar nicht erst. Bereits zur Europawahl 2009 glänzten osteuropäische EU-Debütanten mit flächendeckender Abstinenz. In Tschechien verweigerten sich dem Votum 72 Prozent der Wahlberechtigten, in Slowenien ebenfalls, in Rumänien 73, in Polen 76, in Litauen 79 und in der Slowakei sogar 80 Prozent.
Da hat es seine Tücken, wenn Martin Schulz unablässig räsoniert, er wolle „der erste demokratisch gewählte Präsident der EU-Kommission“ sein. Es darf bezweifelt werden, ob die SPE so viele Stimmen holt, dass sich ihr Favorit nach dem 25. Mai weiter um den Kommissionsvorsitz bemühen oder dies als guter Demokrat besser aufgeben sollte. Nicht auszuschließen, dass erstmals bei einer Europawahl weniger als 40 Prozent der etwa 400 Millionen Stimmberechtigten aus 28 EU-Staaten ein Wahllokal aufsuchen. Nach der nicht eben üppigen 43-Prozent-Quote vor fünf Jahren ließe sich nochmaliger Schwund weder als Vertrauensbeweis noch Wählerauftrag deuten, um den „ersten demokratisch gewählten Präsidenten der EU-Kommission“ in die Spur zu schicken. Nach letzten Umfragen werden auf Europas Sozialdemokraten 26 bis 27 Prozent der Stimmen entfallen. Bei einer Beteiligung von 40 Prozent hätte Schulz gerade einmal elf bis zwölf Prozent der Wähler von sich überzeugt. Da stößt das leidenschaftlichste Amtsbegehren an Grenzen.
Keiner aus Osteuropa
Und wer weiß schon, wie sich die EU-Regierungschefs bei ihrem Gipfel am Ende Juni entscheiden, wenn sie ihrerseits darüber befinden, wer die EU-Kommission bis 2019 führen soll. Gibt es einen gemeinsamen Personalvorschlag, wäre Mitte Juli das neue EU-Parlament gebeten, über den Bewerber abzustimmen. Kommt keine qualifizierte Mehrheit von 376 Ja-Stimmen zustande, ist wieder der Europäische Rat am Zug und muss innerhalb von 30 Tagen eine Alternative präsentieren, danach wäre das EP erneut gefordert. Vielleicht ist im Spätsommer ein Personalpaket geschnürt, dem zu entnehmen ist, wer den Belgier Herman Van Rompuy als Präsident des Europäischen Rates sowie die Britin Catherine Ashton als EU-Außenbeauftragte beerbt – und dass Pascal Lamy, der frühere Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), an die Kommissionsspitze soll! Was dem britischen Premier David Cameron und seinem spanischen Amtskollegen Mariano Rajoy gewiss nicht ungelegen käme, um ihr Veto gegenüber Juncker wie Schulz fallen zu lassen. Die Geschichte vom „ersten demokratisch gewählten Präsidenten der EU-Kommission“ hätte sich als Legende erwiesen, würde aber der EU-Demokratie kaum mehr schaden als das Euro-Krisenmanangement.
Noch vor zwei Jahren hieß es aus der Europäischen Volkspartei wie der Umgebung der deutschen Kanzlerin, es wäre an der Zeit, einen Kommissionspräsidenten aus Osteuropa zu nominieren. Häufig fiel der Name des polnischen Premiers Donald Tusk und geriet wieder in Vergessenheit. Polen sei nun einmal kein Euroland. Aber Wahlen sind empfindliche Seismographen der Massenseele – bleibt die empfindungslos, haben ein Votum seinen Sinn verfehlt, nicht nur Stimmabgabe zu sein, sondern gesellschaftliche Debatten zu spiegeln. Will heißen, hätte es statt Juncker, Schulz, Guy Verhofstadt (Liberale), Ska Keller/José Bové (Grüne) und Alexis Tsipras (Linke) Spitzenbewerber aus Osteuropa gegeben, wäre es unterblieben, das Thema „die Ukraine und wir“ im Wahlkampf so zu umschiffen, wie das geschah. Immerhin befleißigen sich die Regierungen Litauens, Lettlands, Estlands, Polens und Tschechiens nicht nur einer aggressiven Rhetorik gegenüber Russland – sie legen auch Wert darauf, sich NATO-Verbände aufs eigene Territorium zu holen. Vor aller Augen entsteht eine militärisch gesicherte Demarkationslinie, an der sich erneut zwei Systeme in Schach halten. Was kann für Wahlkämpfer im „Gemeinsamen Haus Europa“ beunruhigender sein als diese Perspektive? Nur leider ist der Friedensnobelpreisträger auf der Flucht vor sich selbst.
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