Im Leben des Bashar al-Assad scheint am 21. Januar 1994 vieles von dem vergeblich, was er bis dahin getan hat – die Fühlungsnahme mit dem Savoir-vivre am französisch Gymnasium in Damaskus, das Medizin-Studium, die Aspirantur am Militärkrankenhaus von Tischrin. Schließlich das Refugium der Ordinationsräume und der Bibliothek am St. Mary‘s-Hospital in London, wo er seit einem Jahr aus- und eingeht, um sich als Spezialist für Augenheilkunde fortzubilden. Der kaum Dreißigjährige spricht fließend englisch, von seinem perfekten Französisch einmal abgesehen. Ein Verbleib in Großbritannien ist denkbar, auch wenn für diesen Fall mit dem Veto des Vaters, des Präsidenten Hafez al-Assad, zu rechnen ist. Es bleibt ein Missverhältnis zwischen Erwartungen, denen man sich stellt, und eigenen Kräften – die so erdrückend nicht sind?
Ohnehin beginnt am 21. Januar 1994 eine andere Lebensuhr zu schlagen, geben bisherige Lebensorte und -ziele bestenfalls noch Auskunft über verblassende Erinnerungen. An jenem Tag stirbt bei einem Autounfall der ältere Bruder Basil, den das Familienoberhaupt längst zum alleinigen Anwärter auf Syriens höchstes Staatsamt ausgerufen hat, wie es üblich sein kann für Familien-Dynastien. Deren Galionsfigur muss mehr sein als eine regierende Autorität von untadliger Konsequenz. Der Auserwählte wird auch als Schirmherr gebraucht für eine Million Alawiten, die sich in Syrien seit jeher als staatstragende Elite gegenüber zwölf Millionen Sunniten (drei Viertel der Bevölkerung) verstehen.
Als Parias geächtet
Im 9. Jahrhundert, als die Religionsgemeinschaft entstand, hatte sie gewohnter islamischer Frömmigkeit abgeschworen und neben dem Propheten Mohammed in dessen Schwiegersohn Ali gleichfalls eine Gottheit verehrt (daher der Name Alewiten). Sie folgte der Lehre von der Unfehlbarkeit der Imame, die Ali und seinen Nachfolgern zugebilligt war. Die Abtrünnigen hatten sich in den Augen der sunnitischen Ulama der Häresie schuldig gemacht und verdienten es, über alle Maßen verleumdet zu sein: als Anbeter von Hunden und Ziegen; als Epikureer, jeder Orgie des Müßiggangs und der Wollust ergeben. Die solcherart Geschmähten mussten Überlebenskünstler sein, wollten sie in der Hermetik ihrer Alewiten-Dörfer über die Jahrhunderte kommen. Wen wunderte es, dass die französische Mandatsmacht nach 1920 in den Außenseitern ideale Partner erkannte, mit denen Staat zu machen war, indem man sie den Staat führen und die sunnitische Mehrheit dominieren ließ? Als Syrien im April 1946 unabhängig wurde, besetzten die Alewiten wie eine verschworene Sekte Schlüsselpositionen der jungen Republik. Sie säkularisierten sich mit den Jahren dank der sozialistisch illuminierten Baath-Partei, ergingen sich kurz in panarabischen Träumereien und hatten seit 1970 mit Hafez al-Assad einen autokratischen Führer, der „heldischer Löwe“ und „Sohn des Volkes“ genannt wurde. Die Alewiten konnten nicht höher hinauf, nur fallen. Und das tief.
Der weltgewandte, auf eine medizinische Karriere bedachte Assad-Sohn musste insofern auf Abgründe von Konspiration und Korpsgeist vertrauen, um zu begreifen, welchen Staat ihm sein Vater hinterließ, als der am 10. Juni 2000 starb. Bashar al-Assad konnte versprechen, eine erstarrte Gesellschaft modernisieren zu wollen, und musste wissen, dass ihn die Führungsschicht zwar bereitwillig feiern, aber einen Wandel ohne Kontinuität boykottieren würde. Mit gerade einmal 34 Jahren wurde ein Staatsoberhaupt zum Gefangenen eines Systems, das sich abschaffen oder erhalten, aber kaum reformieren ließ. Assad konnte nur scheitern, wenn er 2002 und noch einmal 2003 mit seinen Anti-Korruptionskampagnen die alte Garde des Vaters ungeschoren ließ, die sich dem einen Paradigma ergeben hatte: Wenn unser Staat existenziell bedroht ist, kann es kein Pardon geben. Wie einst in Hama!
Die Sonne steht tief
So liegt denn – wenn Bashar al-Assad im Frühjahr 2011 Panzer gegen die Aufständischen von Daraa schickt – der Schatten des Aufruhrs von Hama im Frühjahr 1981 über allem, was er tut. Die Erinnerung an ein Strafgericht, das der Vater einer Stadt nicht ersparen wollte, die sich vor 30 Jahren erhob. Geführt von den Moslem-Brüdern wollten die mehrheitlich sunnitischen Bewohner, dass Schluss sein müsse, mit all der Alawiten-Herrlichkeit. Die Garnison wurde aufgerieben, die Zentrale der lokalen Baath-Partei geschleift. Prompt kam der Befehl aus Damaskus, ein Exempel zu statuieren und einen Feldzug zu beginnen, vor dem es kein Entrinnen geben dürfe. Aus der Luft angegriffen und von Panzern beschossen, blieb von Hama nicht mehr als eine Spur geborstener Steine und gebrochener Mauern, die sich durch Moscheen, Wohnquartiere und Suqs verfolgen ließ. Die Kanoniere des Grauens hatten Bulldozer im Tross. Und Hafez al-Assad bedeutete seinen Widersachern: Wenn es denn sein muss, beantworten wir Staatskrisen mit Staatsterror.
Bashar al-Assad – seinerzeit kaum 16 Jahre alt – konnte miterleben, wie sich der Vater nach dem Horror von Hama von seinen Getreuen um so mehr als „heldischer Löwe“ feiern ließ und nicht damit rechnen musste, ein solches Kapitalverbrechen (es gab mehr als 10.000 Tote) könnte ihm in der arabischen Welt von damals zum Verhängnis werden. Unangreifbar zu sein, galt für Hafez al-Assad als politische Überlebenskunst und wird von seinem Nachfolger heute als Überlebenskampf begriffen, dem alles ungeordnet wird. Weil die eigenen Kräften so erdrückend nicht sind?
Die Sonne steht tief über dieser Welt von gestern, deren Tage ringsherum gezählt sind, dass auch Bashar al-Assad nur die letzte Einsicht bleibt, von der er wissen dürfte – sie wird ihn zu Boden werfen und nicht zurück und auch sonst nirgendwo hin.
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