Es hatte nicht nur den Anschein eines inszenierten Missverständnisses – es war genau das. Emmanuel Macron kam vor Tagen in die USA und wurde behandelt, als vertrete er weniger Frankreich als Europa. Je stärker ihm gehuldigt wurde, umso seltsamer wirkte, was sich abspielte. Desto mehr mussten die Brüsseler EU-Zentrale wie auch die Regierung in Berlin eine Botschaft zur Kenntnis nehmen, die verkündete, was sie nicht meinte: Eintracht unter Gleichen.
Denn eines konnte Gastgeber Joe Biden kaum entgangen sein. Niemand sonst musste während der vergangenen Monate im EU-Ranking derart um seinen Status fürchten wie Frankreich. In burschikoser Manier legte Partner Deutschland einen 200-Milliarden-Euro-Fonds gegen steigende Energiepreise auf, ohne Paris zu unterrich
unterrichten, geschweige denn zu konsultieren. Ebenfalls durch Deutschland wurde mit anderen EU-Staaten die European Sky Shield Initiative zur kollektiven Luftabwehr auf den Weg gebracht und Frankreich mit seinem System „Mamba“ locker übergangen. Niemand redet mehr über das von Macron vor dem Ukraine-Krieg unterbreitete Angebot: Wer wolle, könne sich unter dem Nuklearschirm der Force de frappe einrichten.Die Kernpräferenz dieses Präsidenten, auf mehr europäische Selbstbestimmung im transatlantischen Verhältnis zu setzen, ist schlichtweg nicht mehr zeitgemäß. Solange am Bollwerk gegen Russland nicht gerüttelt werden darf, das von keinem mehr abhängt als den USA, ist das vereinte Europa zu Schanzarbeiten eingeteilt und als williger Wirtschaftskrieger gefragt.Das stärkt die USA und schwächt die EU. Die muss zur Kenntnis nehmen, was man in Washington von ihr hält, wenn ausgerechnet Macron derart gefeiert wird. Schließlich hofiert der protokollarische Überschwang einen der größten Verlierer des Jahres 2022, dem besonders eines zu schaffen macht: Vorübergehend oder für länger ist die Zeit eines integrativen Gleichgewichts mit Deutschland vorbei. Die Regierung Scholz stellt sich nicht nur darauf ein, sie lässt Frankreich spüren, dass sich das Machtzentrum der EU nach Osteuropa verlagert. Eine Region der Frontstaaten (Polen, Rumänien, die baltischen Länder) wird in Berlin als antirussischer Block anerkannt, der seinerseits die USA als Schutzmacht Nr. 1 anerkennt.Damit wird Parteilichkeit fortgeschrieben, wie sie 2003 mit dem Irak-Krieg und einer „Koalition der Willigen“ aus der gleichen Gegend schon einmal das „alte Europa“ und damit Frankreich als Fossil behandelte. Nur wusste der damalige Staatschef Jacques Chirac Russland und Deutschland in einer Zweckallianz an seiner Seite, die sich der bellizistischen Anmaßung der USA ebenfalls verweigerten. Wo einst Rückhalt war, ist heute keiner mehr. An Macron wird in Washington geschätzt, der große Europäer einer europäischen Großmacht im Ruhestand zu sein. So durfte er gegen Joe Bidens „Inflation Reduction Act“, ein gigantisches Subventionsprogramm, polemisieren, so viel er wollte – man lächelte darüber hinweg. Ohnehin fehlte ihm das Mandat, um über den Konflikt zu verhandeln, den die EU gerade mit den USA austrägt. Das taten kurz darauf die EU-Kommissare Margrethe Vestager und Valdis Dombrovskis, die Außenminister Antony Blinken an sich abtropfen ließ. Was so viel hieß wie: Wir sind und bleiben protektionistisch, um die europäischen Industrien nach Kräften auszumanövrieren. Was China zuteilwird, sei euch nicht verwehrt. Noch eine „Zeitenwende“.