Bei allem angesagten Modernisierungsfuror kommt die Ampelkoalition an angemessener Brauchtumspflege nicht vorbei. Gilt sie dem deutsch-französischen Verhältnis, wird dann ein Denkmal gehegt? Auf dem Sockel eine Kompromissmaschine, die manchmal stottert, selten stockt. Wer wirft den ersten Stein auf ein Auslaufmodell? Keiner?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die scheidende Kanzlerin Angela Merkel am 3. November in Burgund mit einem würdigen Adieu bedacht. Die Abschiedsstimmung wirkte wie der Vorgriff auf eine Verlusterfahrung, der sich Frankreich nicht aussetzen will, aber wohl muss. Und das nicht nur, weil die erprobte deutsch-französische Gipfeldiplomatie als eingespielter Modus jenseits exaltierter Moden neuer Besetzung harrt. Das Einvernehmen zwischen zwei europäischen Kernmächten zehrte jahrzehntelang von personeller Kontinuität und persönlicher Integrität ihrer Führungsfiguren. Ob es sich um Konrad Adenauer und Charles de Gaulle handelte, Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, François Mitterrand und Helmut Kohl oder zuletzt um Macron und Merkel, die es als Regierungschefin zuvor schon mit den Präsidenten Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und François Hollande zu tun bekam. Vorläufig bleibt offen, ob ein Kanzler Olaf Scholz so viel Format aufbauen und seiner Regierung abringen kann, sich in diese Phalanx einzureihen. Noch nie seit Gründung der V. Republik 1958 hatte man es in Paris mit einer heterogenen Dreierkoalition zu tun und musste sich fragen, wie verlässlich deutsche Außenpolitik sein kann, die kabinettsintern unter dreien ausgehandelt werden muss. Dabei dürfte es unstrittig sein, dass zwischen Berlin und Paris eine realistische Bestandsaufnahme die Symbolik von der Substanz zu trennen hat.
Es fehlt nicht an Konflikten, mit denen Rot-Gelb-Grün anders umgehen wird als Schwarz-Rot. Dass Präsident Macron die Atomenergie ausbauen lässt und dafür einen Klimabonus reklamiert, wollen ihm die Grünen unter Scholz gewiss ankreiden. Auch kann es der Ampel-Regierung schwerlich gefallen, dass Frankreich mit dem eigenen Kernwaffenarsenal im Rücken eine strategische Autonomie der EU vorantreiben will, während für die Merkel-Nachfolger transatlantisches Bekennertum erhabene Gefühle weckt. Und das, obwohl das atlantische Zeitalter zuverlässig verdämmert, die Krisen in und um Europa nur noch in Maßen Amerikas Krisen sind. Umso mehr verstehen sich die Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck oder Alexander Graf Lambsdorff (FDP) als „neuer Westen“ und dessen Propagandakompanie, sei es gegenüber Russland und China und allen unbotmäßigen Mächten dieser Welt, die erzogen gehören. „Wenn jetzt wir“, dann gilt für eine moralgetränkte und aggressive Sanktionspolitik ein „jetzt erst recht“. Wofür die konzertierte Aktion mit der NATO gebraucht wird, deren Aufrüstung den deutschen Staat einiges kostet – zulasten der Investitionen in die Klimawende?
Was im deutsch-russischen Verhältnis noch nicht unter den Hammer kam, könnte nun fällig sein. Ob das den Beziehungen zwischen Paris und Berlin zuträglich ist, darf bezweifelt werden. Für Macron und seine sicherheitspolitische Europa-Agenda sind zwei Fronten – hier die USA als abdriftende Weltmacht, dort Russland als herausfordernde Großmacht – eine zu viel. Er könnte und sollte die ab Januar anstehende EU-Ratspräsidentschaft dazu nutzen, um einer debütierenden Regierung Scholz zu bedeuten: Ihr seid schlecht beraten, die innere Erosion im vereinten Europa durch äußere Konfrontation kompensieren zu wollen. Die EU hat als multilaterales Projekt nur Bestand, wenn sie die Überlebenskraft aller 27 Mitgliedsstaaten in der Klimakrise angesichts einer unbewältigten Pandemie, extremer Staatsschulden und fortschreitender Geldentwertung bewahren hilft. Deshalb müssen wir unsere Ressourcen für das existenziell Notwendige bündeln und nicht an die Pflege von Feindbildern verschwenden. Grüne, FDP sowie der hoffentlich scheidende Außenminister Heiko Maas (SPD) haben leider den Willen zur Deeskalation ebenso eingebüßt wie das Gefühl für den freien diplomatischen Raum zwischen aller, oft unvermeidlichen Polarität. Sollte sich der „neue Westen“ in Berlin der tatsächlich aussetzen, als hätte es Afghanistan nie gegeben? Vorläufig jedenfalls ist der Streit um die Pipeline North Stream 2 allein als Kraftprobe mit Russland willkommen und kein Anlass, nach dem allseits tragfähigen Kompromiss zu suchen.
In der Vergangenheit gingen die deutsch-französischen Beziehungen nicht zu Bruch, wenn statt Immanuel Kants kategorischem Imperativ Jean-Jacques Rousseaus freier Wille galt. De Gaulle ließ sich von Adenauer nicht daran hindern, mit der Sowjetunion als Präsident Frankreichs und nicht als Parteigänger des Westens zu verkehren. François Mitterrand besuchte noch Ende 1989 die DDR und sah anders als Kanzler Kohl in der Regierung Modrow keinen Konkursverwalter, sondern einen Kooperationspartner. Es waren wiederum Angela Merkel und François Hollande gemeinsam, die 2015 in Minsk als Mediatoren zwischen den Konfliktstaaten Russland und Ukraine einen Vertrag samt temporärer Waffenruhe für die Ostukraine aushandelten. Warum beschleicht den Betrachter die Vorahnung, dass Ähnliches zwischen Macron und einer Regierung Scholz kaum denkbar erscheint?
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