Enfant perdu

Kommentar EU-Stabilitätspakt vorerst entsorgt

Der Stabilitätspakt ist Geschichte, aufgegeben und erledigt. Abgesehen von der Frage, ob es im Interesse staatlicher Konjunkturpolitik je sinnvoll war, sich auf die strikten Auflagen dieses Vertragswerkes einzulassen - Tatsache bleibt, in der Nacht zum 21. März 2005 wurde in Brüssel mit dem Grundsatz gebrochen, einmal im Konsens fixierte EU-Regeln auch in Zeiten der Krise einzuhalten. Beim Stabilitätspakt wird dieses Prinzip jetzt definitiv getilgt, verletzt wurde es schon lange. Seit drei Jahren mindestens. Denn beim Stabilitätspakt besteht die EU zunächst einmal nicht aus vielen Mitgliedsstaaten, sondern aus Deutschland und Frankreich, die sich mit ihrem Gewicht gegen den ohnehin nur verhaltenen Widerstand der "Kleinen" durchgesetzt haben.

Ein knappes Jahr nach der Osterweiterung ein fragwürdiges Signal. Dies um so mehr, als der Pakt nun ausgerechnet von jenem Staat zu Fall gebracht wird, der sich vor Jahren vehement dafür eingesetzt hat, dass es ihn überhaupt gibt. Deutschland setzte einst andere Mitglieder unter Druck, sich einer durch strenge Haushaltsdisziplin garantierten Stabilität der gemeinsamen Währung nicht zu verweigern.

Ausgehandelt wurde der Stabilitätspakt im September 1996 durch die EU-Finanzminister in Dublin. Als dabei diskutiert wurde, wie die vom Maastrichter Vertrag "ausnahmsweise und vorübergehend" geduldete Überschreitung der Defizitgrenze von drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes (BIP) definiert werden sollte, war der damalige deutsche Finanzminister - er hieß Waigel - kategorisch: Nachsicht könne nur walten bei einer schweren Rezession, die zu einem um zwei Prozent und mehr geschrumpften BIP führt, oder bei Naturkatastrophen.

Demnach wäre die deutsche Einheit inzwischen als Naturkatastrophe einzustufen. Eines der maßgeblichen Argumente von Hans Eichel bei den jetzigen Verhandlungen in Brüssel lautete: die einheitsbedingten Sonderleistungen müssten endlich die gebührende Beachtung finden und Anlass sein, Deutschland von rigiden Stabilitätsnormen zu befreien. Wer das hört oder liest, kann nur zweifeln am Realitätsverständnis deutscher Finanzpolitik. Warum wurde nicht vor zehn Jahren oder früher - zu Beginn des Maastricht-Prozesses - ein solcher Einheitsbonus reklamiert? Und weshalb eigentlich sollen jetzt 24 EU-Staaten für Fehlentscheidungen und -kalkulationen schwarz-gelber wie rot-grüner Bundesregierungen aufkommen, die sich als unfähig erwiesen haben, Ostdeutschland als Wirtschaftsraum zu entwickeln und nicht vorrangig als Absatzmarkt und Sozialstation ruhig zu stellen? Das - so scheint es - sind die wirklichen Defizite, über die jedoch in Brüssel ebenso wenig gesprochen wurde wie über die Frage, weshalb die Bundesregierung ihre Verstöße gegen den bisherigen Stabilitätspakt nicht einmal ansatzweise mit so etwas wie Konjunkturpolitik entschuldigen kann.


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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