Sie wollten nicht mehr recht zusammen passen – der „neue Freitag“ und der „alte Schoenberner“. Gelegentlich bot er noch kleine Artikel an, um Geschehnisse aus dem Westberlin der sechziger und siebziger Jahre zu erinnern. Es ging ihm um Kulturkämpfe, Medienkampagnen oder spektakuläre Konferenzen, die längst vergessen schienen, die aber dem Vergessen entrissen werden müssten, wie er meinte. Oder er bat darum, seine späten Gedichte in dem einen oder anderen Seiten-Keller des Feuilletons oder der Politik abzudrucken. Leider fehlten Gewohnheit und Format, vielleicht auch der Wille, ihm entgegen zu kommen. Um so mehr erntete sein Gedichtband Fazit, der erst vor einem guten Jahr erschien, viel Lob, teilweise sogar euphorische Bewunderung. „Mir ist keine Literatur in deutscher Sprache bekannt, sei es Gedicht oder Prosa, die den Gedichten Schoenberners vergleichbar wäre. Vergleichbar in der Härte und Genauigkeit der Mitteilung dessen, was Deutschland im 20. Jahrhundert vollbrachte“, schrieb Martin Walser in der Zeit. Plötzlich entstand der Eindruck, da hat einer sehr spät, eigentlich entschieden zu spät, sein Metier gefunden, um sich Ausdruck zu geben und Gehör zu verschaffen. Man kannte Gerhard Schoenberner bis dahin als Publizisten, Filmhistoriker und Germanisten.
Haus der Wannsee-Konferenz
Wahrlich berühmt war sein 1960 erstmals gedrucktes Buch Der Gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945, das bald in den Rang eines Standardwerks erhoben wurde. Schönberner hat darin minutiös nachgezeichnet, wie systematisch und skrupellos in den zwölf Jahren der NS-Diktatur die jüdische Bevölkerung in Deutschland und später in allen Teilen Europas, die unter deutsche Besatzung fielen, ausgelöscht wurde. Bei der Lektüre dachte man unwillkürlich an die Eröffnungsrede des amerikanischen Chefanklägers am Nürnberger Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher. Robert Jackson hatte im November 1945 erklärt, man habe über Untaten zu richten, die „so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung“ seien, „dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen. Sie würde sonst eine Wiederholung eines solchen Unheils nicht überleben“.
Schoenberners Gelben Stern zu lesen, bedeutete, dies bis ins Letzte nachvollziehen zu können. Manchmal wurde einem solchen Chronisten "des Unheils" zu verstehen gegeben, er urteile beim Thema Geschichtsbewältigung zu hart über die (West-)Deutschen und lasse unbeachtet, dass sie doch nach den Jahren der Restauration im Adenauer-Staat zur historischen Verantwortung gefunden hätten. Allein das Verhältnis zum Staat Israel bezeuge dies. Schoenberner ließ sich ungern täuschen. Er war der Auffassung, der Schatten von Auschwitz dürfe niemals kleiner werden, um vielleicht eines Tages kein Schatten mehr zu sein. Einer sich in ausdauernder Selbstvergewisserung wiegenden Gesellschaft wie der deutschen sollte das schlechte Gewissen nicht erspart bleiben. Nur so sei sie gegen Scheinheiligkeit gefeit.
Nicht zuletzt um der begegnen zu können, wurde er Gründungsbeauftragter und von 1989 bis 1996 erster Direktor des Erinnerungsortes Haus der Wannsee-Konferenz, um dort an die Barbarei zu erinnern, wo sie am 20. Januar 1942 ins Unermessliche gesteigert wurde, als sich die so genannten „Generalinstanzen“ des NS-Staates über die „Endlösung des Judenfrage“ einigten.
Topografie des Terrors
Als Schoenberner Anfang 2002 dem Freitag erstmals einen Artikel anbot, handelte der vom peinlichen Gerangel um eine Ausstellung auf dem Gelände des ehemaligen Gestapo-Hauptquartiers in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße. Während in der Hauptstadt Prunk- und Protz-Bauten Metropolengeist verbreiten sollten, hatte es eine „Topografie des Terrors“ schwer und stieß auf eine große Koalition der Ignoranz und Inkompetenz. Gerhard Schoenberner war seit 1987 (!) der Initiator einer solchen Gedenkstätte. Er verzweifelte oft, gab nie auf und tat es auch dann nicht, als ein erster Pavillon (Zumthor-Bau) für die Topografie wegen überbordender Kosten wieder abgerissen wurde. Schließlich hat er es erleben können, dass die Topografie als Dokumentationszentrum im Oktober 2010 endlich eröffnet und seither genau der Erinnerungsort wurde, den er sich vorstellte.
Nach dem ersten Artikel zum Projekt Topografie schrieb Gerhard Schoenberner fast regelmäßig für den Freitag, über das israelisch-palästinensische Verhältnis, den Libanon-Krieg 2006, Mauerschock und Brandts neue Ostpolitik in Westberlin, die SPD Gerhard Schröders, die Diffamierung Lafontaines in der ARD usw. – er schrieb klar, analytisch, scharfsinnig, ohne belehrend und didaktisch zu sein, war einer der letzten Aufklärer und auf möglichst wenig Koketterie mit dem Zeitgeist bedacht. Texte, die aus irgendwelchen Bauchgefühlen heraus entstanden, in denen schwadroniert und spekuliert wurde, waren ihm ein Grauen. Man wurde bei seinem Schreiben oft an die kleine große Sentenz aus Bertolt Brechts Gedicht Lob des Kommunismus erinnert – an das „Einfache, das schwer zu machen ist“.
Im Hinterhaus
Er wollte die Redaktion immer besuchen, doch kam es dazu erst im August 2008, als wir schon auf gepackten Kisten saßen, um nach dem Besitzerwechsel vom Hinterhaus an der Potsdamer Straße zum Hegel-Platz zu ziehen. Wir waren in Abschiedsstimmung. Schoenberner ging bald wieder, nachdem er noch kurz von der Suche nach einem Verleger für seinem Gedichtband erzählt hatte. Als der drei Jahre später gefunden war, ließen sich im schmalen Bändchen unter der Überschrift Lob der Veränderung die Verszeilen nachlesen:
„Der Augenblick des Verlöschens / die Auflösung des Bestehenden / vor der Ankunft des Neuen / Nie eingelöste Hoffnung.“
Gerhard Schoenberner ist vor wenigen Tagen im Alter von 81 Jahren in Berlin verstorben.
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