Erdoğan sollte reden dürfen

G20-Gipfel Der türkische Präsident wollte den Affront. Nun, da er nicht vor Anhängern in Deutschland sprechen darf, bekommt er ihn prompt geliefert. Politisch klug ist das nicht
Auf diese Weise soll sich Erdoğan nicht auf Betriebstemperatur bringen
Auf diese Weise soll sich Erdoğan nicht auf Betriebstemperatur bringen

Foto Ozan Kose / Getty Images / AFP

So prinzipiell Politik auch angelegt wird – es sollten weder Augenmaß noch das Gefühl für das Sinnvolle abhanden kommen. Ein Idealzustand ist erreicht, wenn bei allem, was Regierungen entscheiden, auch die Konsequenzen – möglichst sämtliche – bedacht werden.

Dem türkischen Präsidenten während des G20-Gipfels in Hamburg Aufritt und Rede vor Anhängern wie Interessenten in Deutschland zu verwehren, wie das der Gastgeber verfügt hat, ist sicher nachvollziehbar, aber politisch nicht besonders klug. Von Umsicht zeugt es gleich gar nicht.

Recep Tayyip Erdoğan wollte mit seinem Ansinnen den Affront und bekommt ihn nun frei Haus geliefert. Er fühlt sich brüskiert und gibt sich brüskiert. Er kann, was im widerfährt, als Beleidigung seiner selbst beklagen, aber ebenso der türkischen Bürger in Deutschland, denen man demokratische Rechte und den nötigen Respekt verweigere.

Maßregeln und zurechtweisen

Sicher lässt sich der Wille zur Selbstdarstellung bequem und selbstgewiss als verstiegene Passion eines Populisten geißeln. Und die dem Vorgang gleichsam anhaftende maßregelnde Attitüde des Verbots übersehen?

Warum nicht mit toleranter Gelassenheit einem G20-Gast zugestehen, dass er sich mit Landsleuten trifft und redet. Auf dem Gipfel wird es Pressestatements und -konferenzen zuhauf geben, bei denen dieser Präsident sein Rederecht ausschöpfen kann, soviel er will, und niemand wird ihn daran hindern wollen und dürfen.

Eine chinesische Weisheit besagt, „das Härteste in der Welt – bezwungen wird es vom geschmeidigsten“, Belehrung könne auch ohne Worte auskommen. Kann sie offenbar nicht, und Geschmeidigkeit ist deutscher Außenpolitik eher fremd, wenn sie sich auf die erzieherische Zurechtweisung versteift und rechthaberisch moralisiert, wenn Erdoğan, der Anti-Demokrat, sein Gastrecht ausreizt.

Man wird im Übrigen sehen, wie in Deutschland demokratische Grundrechte wie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht geschützt sind, sollte sich in Hamburg während der kommenden Tage öffentlicher Protest gegen den anstehenden Gipfel artikulieren.

Anlässe zuhauf

Doch zurück zum Auftrittsverbot für Staatschef Erdoğan. Augenscheinlich herrscht in Berlin die Auffassung vor, die deutsch-türkischen Beziehungen seien bei weitem nicht in einem derart schlechten Zustand, dass sie nicht weiteren Schaden verkraften könnten.

Erstaunlich und bezeichnend ist: für das aufwallende Bemühen, einen Autokraten zu disziplinieren, fehlte es in jüngster Vergangenheit nicht an Anlässen, die gleiche Entschiedenheit – wenn nicht mehr – verdient hätten. Warum wurden gegenüber der AKP-Regierung nicht energischer Widerspruch laut, als die türkische Armee im Vorjahr in Südostanatolien kurdische Viertel zusammenschoss? Weshalb wurde der NATO-Partner nicht in die Schranken gewiesen, als seine Panzereinheiten über die Grenze nach Syrien rollten – sprich: zur Intervention ausholten –, um jeden Anflug von kurdischer Selbstbestimmung im Bürgerkriegsland abzuwürgen?

Und ist es nicht ebenso eine schwere Rüge wert, dass sich inzwischen die gesamte Führung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) unter Terrorismusverdacht gestellt sieht und in Haft sitzt. Damit ist eine durch Wahlen legitimierte Oppositionspartei ausgeschaltet und den Kurden ein, wenn nicht der entscheidende Vertreter ihrer Interessen genommen worden.

Hier hätte zupackendes Überzeugungstätertum ein großes Betätigungsfeld zu beackern. Man tat es aber nicht, weil man sich womöglich an der Seite unerwünschter Partner wiederzufinden glaubte. Sich an Erdoğan abzuarbeiten, erscheint da unverfänglicher und mehrheitsheischender.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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