Erdogans neues Mandat

Türkei Mit dem Referendum über eine Verfassungsreform hat die regierende AKP bewiesen, dass der kemalistische Staat nicht mehr unerschütterlich, sondern veränderbar ist

Was Premier Erdogan wollte, war nicht ohne Risiko. Er legte das Plebiszit über seine Verfassungsreform auf den 30. Jahrestag des Militärputsches vom 12. September 1980. Es wurde damit auch über Selbstsucht und Machtbewusstsein einer militärischen Elite abgestimmt, die sich durch den kemalistischen Staat mandatiert, vor allem autorisiert fühlte, der Türkei neun Jahre Diktatur zuzumuten. Eine Zeit, in der das Leben eines Oppositionellen wenig galt. Dies müssen die Nachfolger der Putschisten in der Generalität von heute nicht unbedingt gutheißen. Zumal die bisher geltende Amnestie für die Täter von damals ausgedient hat – sie müssen mit Anklagen wegen der nach 1980 begangenen Verbechen rechnen.

Um es klar zu sagen, das jetzige Referendum und die davon abgesegnete Verfassungsinventur schaffen den kemalistischen Staatstyp nicht ab, aber sie nehmen ihm etwas von seiner Monumentalität. Die moderne Türkei ist seit dem 12. September 2010 kaum mehr identisch mit dem geheiligten Erbe des Kemalismus. Vor Jahren noch, bis Erdogan mit seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die Regierung übernahm und sich in seinem Wunsch nach Reformen nicht beirren ließ, wurde die moderne Türkei mit dem kemalistischen Staat identifiziert. Jetzt kann das nur noch gelten, wenn dieses System beweist, veränderbar – sprich: modernisierbar – zu sein.

Allein, was künftig im Justizsystem möglich ist, wirkt revolutionär, ist tatsächlich aber kaum mehr als die logische Folge des politischen Willens, die Dominanz alter säkularer Eliten zu brechen. Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte wird künftig nicht mehr allein über die Besetzung von hohen Justizämtern entscheiden, das Parlament greift ein und gibt zu verstehen, wie es seine demokratische Souveränität begreift. Die Zahl der Verfassungsrichter wird aufgestockt. Noch entscheidender wird sein, dass Privatpersonen das Recht erhalten, sich an die höchste juristische Instanz des Landes zu wenden, und Militärgerichte keine Zivilisten mehr aburteilen dürfen.

Man wird in Brüssel und Berlin zur Kenntnis nehmen müssen, dass ausgerechnet eine Partei, die ihre Wurzeln im politischen Islam hat, mehr für die innere Demokratisierung der Türkei getan hat, als alle ihre Vorgänger seit Ende der Obristen-Herrlichkeit im November 1989. Ob es sich um die Partei des Rechten Weges (DYP) von Tansu Ciller oder die Mutterlandspartei (ANAP) von Mesut Yilmaz oder die Sozialdemokraten von Bülent Ecevit handelte.

Niemand kann übersehen, dass Erdogan und eine Mehrheit der Türken mit der Verfassungskorrektur noch einmal ein Empfehlungsschreiben bei der EU hinterlegt haben und auf günstige Antwort hoffen. In Brüssel stets neue Hürden für einen Beitritt aufzustellen, wird die Regierung in Ankara darin bestärken, mehr für ihre regionalmächtige Statur zu tun und nach Partnern außerhalb Europas zu suchen. Allerdings kann sie das nur, wenn die innere Stabilität der Türkei gewahrt bleibt und kein Graben zwischen der islamischen Moderne und einem restaurativen Islam in der türkischen Gesellschaft entsteht, der sich als so tief erweist, wie der Kemalismus über Jahrzehnte hinweg unerschütterlich war. Alles zu tun, damit aus diesem Graben kein Abgrund wird, dafür hat Tayyip Erdogan mit dem Verfassungsreferendum ein Mandat erhalten.

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