Erpresster Kompromiss

EU-Gipfel Die politischen Kollateralschäden dieses Krisentreffens werden katastrophal sein. Emmanuel Macron sucht Trost in Floskeln, wenn er es „historisch“ nennt
Emmanuel Macron und Angela Merkel
Emmanuel Macron und Angela Merkel

Foto: Stephanie Lecocq/POOL/AFP/Getty Images

Tatsächlich wurde in diesen vier Tagen und Nächten eine historische Chance verspielt. Sie bestand darin, in einem Augenblick der Not Staaten und Völker einmal nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als Schicksalsgemeinschaft des gegenseitigen Beistands zu verstehen.

Das ist gründlich misslungen. Die von der Corona-Pandemie am schwersten betroffenen Staaten müssen sich behandelt fühlen wie vor einem Jahrzehnt die Großschuldner der Eurokrise: als Missetäter, nicht als Opfer, als Kostgänger, nicht als Hilfsbedürftige. Ihnen wird bedeutet: Allein Wohlverhalten, die Annahme von Auflagen, die Disziplinierung führt zum Anspruch auf Unterstützung, die noch dazu geringer ausfällt – nimmt man die Höhe der sogenannten „Zuschüsse“ – als ursprünglich erwartet.

Da lässt sich nichts einfach abhaken. Denn was hat die Kompromissmaschine EU diesmal produziert? Einen mühsam ausgehandelten Schlusskonsens, den man letztlich abliefern musste, um sich als Staatenassoziation mit globaler Ambition nicht vollends lächerlich zu machen. Was viel mehr ins Gewicht fällt, das sind die politischen Kollateralschäden dieser Brüsseler Tage: Ressentiments bis hin zur Feindseligkeit zwischen einzelnen Regierungschefs, Konfliktlinien zwischen Nord und Süd, zugleich und verhärtet wie noch nie zwischen Ost und West, ein immenser Vertrauensverlust.

Andere Geldbeschaffung

Hätte man das angesichts eines sich seit Jahren aufbauenden Konfliktstaus in der EU vermeiden können? Zumindest wäre es einen Versuch wert gewesen, anderer Geldbeschaffung zu vertrauen. Die EU-Kommission entschied sich für gemeinsame, aber eben auch einmalige Schulden, die nun in höherem Maße als gedacht und konditioniert zurückgezahlt werden müssen. Sie belasten alle EU-Staaten, aber besonders jene, die sich schon vor Corona im Krisenmodus befanden und mit hohen Schulden zu kämpfen hatten, vorrangig Griechenland, Italien und Spanien.

Warum nicht von der Europäischen Zentralbank (EZB) gedeckte Corona-Bonds in einer Höhe von einer Billion Euro mit einer Laufzeit von 25 bis 30 Jahren auflegen, um im Einzelfall eine nach oben schießende Staatsverschuldung zu vermeiden? Dazu hätte ein öffentliches Investitionsprogramm der Europäischen Investitionsbank (EIB) eine wirksame Ergänzung sein können, ebenfalls abgesichert durch die EZB, zugleich ein Angebot an marodierendes Kapital, das derzeit die Finanzmärkte unterwandert. Natürlich wären bei einem solchen Verfahren Auflagen und Kontrollen zu Lasten der Nutzer nicht in dem Maße möglich gewesen, wie sich das nach diesem EU-Gipfel abzeichnet.

Nebulöse Kriterien

Wie mit diesem Sondertreffen deutlich wurde, war die EU-Kommission außerstande, mit auseinanderdriftenden Interessen so umzugehen, dass sie Moderatorin auf der Höhe der Situation sein konnte. Dass ihr ein solcher Part verwehrt blieb, hat sie selbst verschuldet. Sie agierte zumindest nach außen zunächst viel zu sehr hin im Schatten der Merkel-Macron-Initiative, die auf Hilfsgelder von 500 Milliarden Euro aus war, bevor Kommissionspräsidentin von der Leyen am 27. Mai mit ihrem 750-Milliarden-Projekt nachlegte.

Dabei blieb vor dem jetzigen Gipfel eher unklar, nach welchen Kriterien die Gelder verteilt werden sollten. Anders formuliert, welcher Grad an Bedürftigkeit der Mitgliedsländer weshalb geltend zu machen war. Das einen Tag nach von der Leyens Ankündigung durchgesickerte Tableau, das die auf Staaten bezogene Gesamtsumme an Hilfen ebenso enthielt wie das ihnen zugedachte Verhältnis von Zuschüssen und Krediten, richtete sich laut EU-Kommission nach der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit zwischen 2015 und 2019. Nicht nach der Schwere der Pandemie und den sozialen Folgen, nicht nach dem Reparaturbedarf im nationalen Gesundheitswesen und dem von der Kommission selbst prognostizierten Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für 2020, wozu es seit Anfang Juli in Brüssel eine detaillierte Studie gab.

„Next Generation EU“

Um Beispiele herauszugreifen: Während bei diesem Ausblick für Frankreich, Italien, Kroatien und Spanien ein zweistelliges Minus angezeigt war, wurde Polen ein Rückgang des Wirtschaftsertrages um 4,6 Prozent prophezeit. Ungeachtet dessen sollte das Land mit 63,8 Milliarden Euro die drittgrößte Zuwendung auf dem 750-Milliarden-Paket erhalten, wesentlich mehr als Frankreich mit 38,8 Milliarden. Auch lagen die nicht rückzahlbaren Zuschüsse bei Polen mit 37,1 Milliarden klar über den vorgesehenen Krediten von 26, 1 Milliarden Euro.

Wie zum Hohn wurde dieser nicht übermäßig adäquate Verteilungsschlüssel gemäß der Überschrift des Von-der-Leyen-Plans gleichsam mit dem Label „Next Generation EU“ versehen. Die Kommission bemühte sich, dieses Zahlwerk als „Simulation“ zu relativieren, als „Arbeitsdokument zur Einschätzung des Aufbaubedarfs in Europa“ und eine „Übersicht rein illustrativer Natur“.

Der Gipfel ließ davon allein deshalb nicht viel übrig, weil sich das Verhältnis zwischen nicht rückzahlbaren Zuschüssen und Krediten erheblich änderte. Die ursprünglich mit 500 Milliarden veranschlagten Zuschüsse schrumpften auf 390 Milliarden, während die tilgungspflichtigen Kredite nicht mehr bei 250, sondern 360 Milliarden Euro liegen.

Hier kam der Blockadewille von Dänemark, Schweden, Österreich, Finnland und den Niederlanden zum Zug. Es wird versucht, deren Verhalten durch eine tendenziöse ideologische Argumentation zu erklären, indem die Gruppe mit dem Etikett „Sparsame Vier“ oder „Sparsame Fünf“ versehen wird. Ein Trick, der die EU-Diplomatie, aber auch deren mediale Reflexion in die Nähe demagogischen Täuschungsmanöver rückt.

Reichlich demagogisch

Was vielleicht weniger bekannt ist, weil es weniger kolportiert wird: Die genannten Länder sind bei ihren Staatsausgaben alles andere als „sparsam“. Setzt man den EU-Durchschnitt mit 100 an, dann kam Schweden 2019 auf den Wert 156, Dänemark sogar auf 181, Österreich auf 148 und die Niederlande auf 134. Zieht man die Vergleichsangaben zu Italien oder Spanien heran, dann schlagen die Werte 98 bzw. 76 zu Buche.

Dabei ist in Betracht zu ziehen, dass es in Dänemark wie Schweden hohe Einkommenssteuern gibt, um sich hohe Staatsausgaben leisten zu können. Die Niederlande stehen überdies als Steueroase Irland in nichts nach, um Kapital aus anderen EU-Ländern abzuziehen, nicht zuletzt denen des Südens, die Mark Rutte zu Reformen und Ausgabendisziplin ermahnt. Österreich erfüllt den Stabilitätspakt seit Jahren nicht und liegt mit Gesamtschulden von derzeit 74 Prozent des Bruttoinlandsproduktes klar über dem Maastricht-Grenzwert von 60 Prozent. Und diese Doppelmoral fühlt sich berufen, bei anderen auf Rechtsstaatlichkeit zu pochen?

Man muss weder Viktor Orbán noch den polnischen Premier Mateusz Morawiecki für sympathische Zeitgenossen halten, aber es ist völlig abwegig, ihre Staaten und Völker durch den Entzug von Hilfsgeldern für die dortige Regierungspolitik bestrafen zu wollen.

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