Natürlich kann man wie gewohnt den Erregungsgipfel besteigen und Präsident Erdoğan als menschenverachtenden Interventionisten geißeln. Mit dem Vorstoß in die syrische Kurdenregion von Afrin wird Völkerrecht gebrochen (nur wer bricht das im Nahen Osten nicht?), um politische Flurbereinigung zu betreiben, die internen und externen Paten der bald sieben Jahre dauernden Schlacht um Syrien nicht missfallen muss. Baschar al-Assad sieht Gegenspieler gezügelt, die wie die kurdischen Volksbefreiungseinheiten (YPG) kaum als Sympathisanten seines Regimes gelten. Für Russland zählt der Erhalt syrischer Staatlichkeit, der eine kurdische Autonomie dienlich sein kann, aber nicht muss. Zumal sich die Türkei stets daran reiben wird. Die USA wollten schon de
den nordirakischen Kurden nicht beistehen und sahen zu, als die nach ihrem Unabhängigkeitsplebiszit vom 30. September 2017 durch Iraks Nationalarmee wie schiitische Milizen im Raum Kirkuk abgeräumt wurden.Warum sollte Washington der Türkei in die Parade fahren, wenn die Beziehungen längst eine Belastungsgrenze erreicht haben? Ankara pariert jeden Affront der Amerikaner mit der Annäherung an Russland. Der US-Außenminister verdarb viel, als er vor Tagen andeutete, 30.000 Mann starke Grenztruppen aus den kurdisch geführten Demokratischen Kräften Syriens (DKS) formieren zu wollen. Konnte es für Erdoğan eine bessere Vorlage geben? Rex Tillerson bestätigte das umgehend, als er behauptete, missverstanden worden zu sein.Hasardeure können nur so skrupellos sein, wie ihnen das zugestanden wird. Erdoğan erntete Anfang 2011 viel westlichen Applaus, als er sich auf der Schwelle zum syrischen Bürgerkrieg schwer exponierte und den eben noch hofierten Assad als Schurken verdammte. Er war fortan Spediteur für den Nachschub des Anti-Assad-Lagers, auch von dessen islamistischen Filialen. Er duldete Rekrutierungsbasen und Transitkorridore für ebendiese Klientel. Was ihn antrieb, war offenbar der Glaube an eine historisch anmutende Chance. Die Türkei stellt sich an die Spitze einer sunnitisch geprägten Neuordnung Syriens, indem sie als Schutzmacht eines Regimewechsels auftritt und damit zur Regionalmacht aufsteigt. Allein, der neoosmanische Traum zerschlug sich und wurde zum Trauma. Radikale Islamisten, wie sie der IS versammelte, hielten nichts vom türkischen Vormund und stellten das klar, indem sie ihren Terror nach Ankara und Istanbul, Diyarbakır und Midyat trugen.Bei all diesen Eskapaden war auf eines Verlass: Erdoğans kurdische Obsession, genährt aus Staatsräson und Nationalismus. Für die AKP-Regierung und ihren Anhang bleibt die Vorstellung einer autonomen oder gar unabhängigen Entität in Nordsyrien, die den Kurden in Südostanatolien Paradigma und Ansporn ist, der existenzielle Albtraum schlechthin. Sich dem zu widersetzen, verführt im Augenblick dazu, den Einfluss auf die syrische Nachkriegsordnung in dem Maße auszuspielen, wie sich dies dank der Zweckallianz mit Russland und Iran anbietet. Zwar muss Ankara bei diesem Arrangement in Kauf nehmen, mit den maßgeblichen Schutzmächten Präsident Assads im Bunde zu sein, den man eigentlich aus dem Weg räumen wollte. Andererseits kann man sich Handlungsfreiheit ausbitten, wenn es gegen die syrischen Kurden geht. Die Regierung Putin hat nicht aufgehalten, sondern toleriert, was passiert. Die Aussichten für ihr Projekt einer belastbaren Waffenruhe in Syrien schwinden, wenn die Türkei ausschert. Jeder zahlt seinen Preis, jeder hat seinen Preis. Auch Deutschland schaut aufs Taxameter und will die Kosten für ein wieder entkrampftes Verhältnis zu Ankara nicht hochtreiben. Also findet sich bei Nordsyrien beschwiegen, was im Blick auf die Ostukraine und die Krim beklagt wird – der Gebrauch von Militärmacht, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Daraus folgt, dass die syrischen Kurden sich selbst überlassen sind und die Kollateralschäden eines geopolitischen Machtpokers zwischen den USA, Russland und der Türkei hinnehmen müssen.Ein solches Setting bleibt wenig schuldig. Es hält einer globalen Hackordnung den Spiegel vor, die Augenmaß und Vernunft keine Schneisen mehr schlägt. Als strategisch definierte Allianzen (wie die NATO) weichen volatilen Bündnissen mit wechselnden Partnern. Mit den YPG geraten immerhin amerikanische Alliierte unter türkischen Beschuss. Es schwindet das integrative Normativ von Bündnisbeziehungen, die lange als unerschütterlich galten. Regionale Konflikte werden nicht gelöst, sondern genutzt, um regionalmächtigen Ambitionen Geltung zu verschaffen. So handelte eine westliche Militärkoalition in Libyen, so verfährt Saudi-Arabien im Jemen und die Türkei in Syrien. Die Mutation der Weltgemeinschaft zur Konkurrenzgesellschaft scheint ein irreversibler Vorgang zu sein. Gehen Akteure zur Tagesordnung über, ist immer häufiger eine Schlachtordnung gemeint.Erneut wird erkennbar, dass Schlüsselstaaten im Nahen Osten nicht ungestraft demontiert werden. Der Verlust ihrer Ordnungsmacht hinterlässt Ohnmacht. Die türkische Führung würde ihre Panzer wohl kaum in Marsch setzen, müsste sie mit der energischen Gegenwehr eines syrischen Staates rechnen, der sein verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung mit aller Konsequenz wahrnehmen kann.