Eurasische Union

Eine Frage der Logik Will die EU künftig Geopolitik betreiben, braucht sie die Türkei dringender als Estland

Unternehmungslust lässt sich der Europäischen Union nicht absprechen. Ein Beitritt der Türkei würde ihr viel Neues bescheren - gemeinsame Grenzen zum Beispiel mit Syrien, Irak, Iran, Armenien und Georgien. Ausnahmslos Staaten, die nicht unbedingt als Hochburgen innerer Stabilität und politischer Selbstlosigkeit bekannt sind. Die Regierungen in Tiflis und Jerewan würden kaum darauf verzichten, im Falle einer direkten Nachbarschaft mit dem EU-Land Türkei in Brüssel ihre Bedürftigkeiten zu präsentieren und postwendend einen eigenen Aufnahmeantrag zu hinterlegen. Ganz zu schweigen davon, dass eine "Eurasische EU" in Tuchfühlung mit Irak, Iran und Afghanistan der momentan wohl explosivsten Region der Welt den Puls fühlen dürfte. Die beliebten, als EU-Diplomatie geltenden Nackenmassagen von Politikern im Nahen und Mittleren Osten, die niemandem weh, sondern allen nur gut tun, weil sie über einen Wimpernschlag hinaus nichts bewirken, wären fortan verzichtbar. Auf der Tagesordnung stünde die Teilnahme an einer Neuordnung dieses Raumes, mit der die Amerikaner schon so schwungvoll begonnen haben. Der Ruf aus den USA, die Europäer sollten sich auf Jahre hinaus im Irak militärisch exponieren, wäre aus Gründen der geopolitischem Logik nicht länger zu ignorieren, sollte die EU unterwegs zu ihrem türkischen Mündel die Grenzen Europas überschreiten. Darf man einen Partner allein lassen, der sich am Rande eines Epizentrums eskalierender Konflikte behauptet, wird die Fangfrage aus Washington lauten.

Außenminister Fischer wie Kanzler Schröder werden all das bedacht haben, so hofft man, wenn sie der türkischen Regierung unablässig zu verstehen geben, es sei keineswegs vergeblich, unbeirrbar an der Beitrittsoption festzuhalten. Deutschland werde helfen, den Weg in die EU zu ebnen. Dieser Anfall von Großmut mag zunächst überraschen, da der anstehende Beitritt Osteuropas zur Europäischen Union deren Integrationskraft beansprucht wie noch nie seit Abschluss der Römischen Verträge im Jahre 1957. Bezeugt es einen bedenklichen Realitätsverlust, wenn die Türkei dennoch geladen bleibt? Oder wird die türkische Karte gerade deshalb gespielt, weil die Union in ihrer überlieferten Gestalt ausgespielt hat? Wenn der 25-Staaten-Bund nach dem 1. Mai durch ein gewisses Übergewicht an Beweglichkeit einbüßt, muss das den nationalen Ambitionen einzelner Mitglieder nicht abträglich sein. Im Gegenteil, europäische Regionalmächte wie Deutschland und Frankreich könnten diese neue EU immer dann mitnehmen, wenn sie dank ihres Gewichts für Eindruck sorgt, und immer dann zurücklassen, wenn sie als Koloss zur Last wird. Und in einem Europa der verschiedenen außenpolitischen Geschwindigkeiten und Interessen erscheint eine EU-Mitgliedschaft der Türkei in einem besonderen Licht. Nicht, weil rot-grüne Politiker in Berlin Tag und Nacht bangen Herzens für Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechte in Anatolien beten, sondern die Erinnerung pflegen an offenkundige Irritationen zwischen Ankara und Washington vor genau einem Jahr.

Seinerzeit hatte das türkische Parlament kurz vor dem US-Angriff auf den Irak sein Veto gegen eine Stationierung von US-Truppen auf dem eigenen Territorium eingelegt. Seither gab sich die türkische Regierung in ihrer Irak-Politik so schmerzhaft die Zügel, dass sogar ein kleines, nur symbolisches Militäraufgebot im nordirakischen Kurdengebiet unterblieb. Ankara tastet sich stattdessen mit größter Vorsicht an eine gut ausbalancierte Position zwischen Amerika und Europa heran.

Für die EU eine Offerte, die einladender nicht sein kann und mit der Gegeneinladung nach Brüssel nicht zu teuer honoriert scheint. Die erstrebte militärische Interventionsfähigkeit einer kerneuropäischen Union, die - von der Sonderrolle Großbritanniens abgesehen - Deutschland und Frankreich, aber auch Italien und Spanien so am Herzen liegt, gewinnt an Durchschlagskraft, wenn die Türkei als Brücke nach Westasien zur Verfügung steht. Den Amerikanern wäre die Sorge genommen, das Land am Bosporus könnte in islamistisches Fahrwasser geraten. Europa muss sich dem nur gewachsen zeigen.


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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