Es bricht auf, was schon lange schwelte und inmitten der für diese Gemeinschaft existenziellen Krise zu einer vor aller Welt ausgetragenen Zerreißprobe wurde. Ausgerechnet jetzt? Gegenfrage: Wann sonst, wenn nicht jetzt? Denn was dieser Gipfel offenbart, ist sehr viel mehr als nur ein Konflikt um die Vergabe vom Hilfsgeldern. Es entlädt sich mehr als ein Streit über die Frage, wer wieviel wofür (Sichwort Reformauflagen) erhält und wieviel davon verzinst zurückzahlen muss.
Es handelt sich mit der Europäischen Union eben nicht um eine Solidargemeinschaft idealistischer Überzeugungstäter, sondern um einen Zweckverband pragmatischer Regierungschefs, die auf eine schwere, durch höhere Gewalt ausgelöste Rezession nicht in gegenseitigem Einvernehmen zu reagieren vermögen. Das ist nicht bitter, sondern logisch und wirkt womöglich nachhaltig.
Noch lange nicht
Diese Staatenassoziation zerfällt im Zustand des ökonomischen Niedergangs in Gruppen- und Einzelinteressen, gespeist von nationalen Egoismen und eigensüchtigem taktischen Kalkül. Genau genommen hat man es mit nichts sonst als einer von systemnotorischen Rivalitäten und Rücksichtlosigkeiten auf das Supranationale übertragenen kapitalistischen Marktwirtschaft zu tun. Die so häufig proklamierte europäische Selbstbestimmung versagt in einem Augenblick, da sie mehr denn je gefragt ist. Übrig bleibt nicht einmal ein Wirtschaftskartell, das als Kollektiv um seiner selbst willen eine Krise beherrscht, die alle trifft. Aber eben nicht alle in gleicher Weise. Und damit fängt es an. Und damit hört es lange noch nicht auf, auch nach vier Gipfeltagen nicht.
Sicher rächt sich einmal mehr, dass es in der EU seit jeher Souveränitätsreservate gibt, die nationaler Hoheit unterstehen, allein in der Haushalts-, Steuer- und Finanzpolitik. Dass Regierungen, die EU-Beschlüsse gegenüber ihren Parlamenten zu verantworten haben und nicht mit unangreifbaren Mehrheiten gesegnet sind wie in den Niederlanden, in Schweden und in Finnland, dies zu nutzen wissen, erscheint nachvollziehbar. Dieses Verhalten ist aber ebenso ein Beleg dafür, dass die fragile Balance zwischen Gemeinschaftsrechten und einzelstaatlicher Souveränität alles andere als krisenresistent ist. Tatsächlich handelt sich um kompromisslerische Agreements, die in Situationen wie der momentanen als Lebenslüge zu erkennen sind.
Machtlose Führungsmächte
Ob dieser Sondergipfel als abschreckendes Beispiel lange nachwirkt, wird sich zeigen. Desgleichen, ob er als Lektion taugt und wie viel er von der EU übrig lässt. Wenn es eine solche Lektion gibt, dann sollte sie für Europa-Enthusiasten vor allem darin bestehen, künftig EU-Skeptiker sein zu wollen.
EU-Führungsmächte konnte an diesem Wochenende erleben, erstaunlich machtlos zu sein, wenn innerer Dissens ihrem Führungswillens und wie auch immer gearteten Führungsqualitäten Grenzen setzt. Deutschland und Frankreich ist die übliche Durchsetzungskraft förmlich zwischen den Fingern zerronnen. Sie wurden zu Sekundanten des Zerfalls, statt Mentoren einer Einigung zu sein.
Abgezeichnet hatte sich der Autoritätsverlust schon Anfang des Monats, als die von Berlin und Paris favorisierte Spanierin Nadia Calviño als neue Chefin der Eurogruppe scheiterte. Die Eurozonen-Finanzminister entschieden sich mehrheitlich für den Iren Paschal Donohoe, in Dublin Finanzminister seit 2017. Offenkundig war dies eine konzertierte Aktion vor allem der Staaten, die während der vergangenen Tage in Brüssel gegen das 750 Milliarden-Euro-Paket der EU-Kommission – wie es schien: nach Herzenslust – revoltierten.
Enorme soziale Kosten
Dabei besonders hervorgetan hat sich neben dem niederländischen Premier Mark Rutte der österreichische Kanzler Sebastian Kurz. Es klang peinlich beifallheischend, wenn er insistierte, man müsse Krisenbewältigung und volkswirtschaftlichen Umbau verschränken. Daher sollte die EU-Gelder vorrangig dazu verwendet werden, die nationalen Ökonomien zu ökologisieren, zu digitalisieren und zu modernisieren.
Aber was ändert das an den jetzt und in den nächsten Jahren fälligen enormen sozialen Kosten, die mit der Corona-Krise unausweichlich auf alle EU-Mitglieder zukommen? Selbstredend werden da konsumptive Ausgaben fällig. Wie sollte es anders sein, sofern sie der Existenzsicherung von Millionen EU-Bürgern dienen? Als solchen wurde vor diesem Gipfel Polen, Spaniern, Franzosen, Italienern, Belgiern oder Kroaten doch unablässig versichert, zu welch wahrhaft historischer, einmaliger Solidarität die EU fähig und willens sei.
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