Es bedarf keiner großartigen Zeitreise, um sich zu erinnern, was alles unternommen wurde, um den ersten Euro-Rettungsfonds EFSF aufzurüsten und die Eurokrise einzudämmen. Im Oktober 2011 kursierte die frappierende Idee, die Finanzen des Fonds zu „hebeln“, um dank privater Investoren die verfügbaren 500 Milliarden auf bis zu zwei Billionen Euro aufzustocken. Das Vorhaben blieb freilich ein frommer Wunsch, weil sich die Investoren nicht fanden. Deshalb erstaunt es einigermaßen, wenn nun etliche Euro-Finanzminister für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Gleiches erwägen.
Der ESM ist noch nicht einmal offiziell begründet, da wird bereits Vorsorge getroffen, sein Stammkapital von 700 Milliarden Euro anzuheben. Ein bemerkenswerter Vorgang. Allerdings auch erwartbar. Schließlich lässt sich dem ESM-Vertrag entnehmen, was notfalls getan werden kann, um die Finanzen des Fonds jederzeit seinen Ausgaben anzupassen – zum Teil in rechtlichen Grauzonen. Diese Vorkehrungen haben nicht allein etwas mit dem Ausmaß möglicher Hilfsleistungen für hochverschuldete Staaten und andere Klienten zu tun. Sie gehen offenbar ebenso auf die Sorge zurück, dass die Einlagen der 17 Euro-Staaten (s. Übersicht) nicht jederzeit in der vereinbarten Höhe abrufbar sind. Der angeschlagene ESM-Partner Spanien etwa muss laut ESM-Vertrag respektable 83,3 Milliarden Euro an Bareinzahlungen und Kreditgarantien beisteuern, die Hochschuldner Portugal und Irland 17,6 beziehungsweise 11,1 Milliarden. Selbst das von allen Tränken des Finanzmarktes verbannte Griechenland hat gegenüber dem ESM eine Tributpflicht von 19,7 Milliarden.
Mit anderen Worten, hier ballen sich Risikofaktoren, die zu unterschätzen leichtsinnig wäre. Überdies hat der ESM länger auf sich warten lassen als gedacht. Ihm dürfte daher am Finanzmarkt zunächst kein überbordender Vertrauensvorschuss winken – fast schon ein tragischer Umstand, denn außer auf viel Geld ist dieser Kapitalstock auf nichts mehr angewiesen als den Einstiegsbonus bei allen Marktakteuren, die von ihm profitieren wollen.
Keine letzte Gewissheit
Letzten Endes verkörpert der neue, unbefristet installierte Stabilitätsmechanismus nichts weniger als eine Europäische Kreditanstalt für den Wiederaufbau gestörter Geschäftsbeziehungen zwischen Staaten und Gläubigern. Euro-Länder mit hohen Verbindlichkeiten sollen mit dem ESM im Rücken ihrem Schuldendienst nachkommen können, ohne gleich Hilfen in Anspruch nehmen zu müssen, weil explodierende Zinsen für zu verkaufende Staatsanleihen dazu zwingen. Andererseits lässt sich schwerlich übersehen: Alle Einleger des ESM sind zugleich potenzielle Klienten desselben, was nicht nur das ESM-Budget über Gebühr belasten, sondern auch ein AAA-Zertifikat für das Markt-Ranking beeinflussen wird.
Insofern dürfte auch die deutsche Haftungssumme von 190 Milliarden Euro (22 Milliarden in bar und 168 Milliarden als Bürgschaft) kein absolut letztes Wort sein. Das Verfassungsgerichtsurteil vom 12. September gewährt einen erstaunlichen Spielraum, damit eine Bundestagsmehrheit gegebenenfalls draufsatteln kann. Die Karlsruher Richter haben sich erkennbar zurückgehalten, strikte Grenzen für Zusatz-Transfers in den neuen Opferstock der Euro-Gemeinschaft zu benennen. Im Urteil heißt es lediglich, es gebe eine „wirtschaftliche Belastungsgrenze“, die nicht in einem Maße überschritten werden dürfe, dass die Haushaltautonomie des Parlaments verloren gehe. Welche Autonomie? Wie viel Haushaltsrecht haben die kategorischen Imperative, wie sie dem Fiskalpakt, der Schuldenbremse und sonstigen Zwängen der Euro-Rettungsökonomie zu verdanken sind, eigentlich übrig gelassen?
Es wirkt schon verblüffend wirklichkeitsfremd, wenn ernsthaft behauptet wird, das Verfassungsricht habe am 12. September die Rechte des Parlaments gestärkt. Diese Rechte hat sich die Legislative längst selbst beschnitten, weil mit jedem Ja zu den Kapitalschüben der Euro- und Banken-Rettung seit Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008 auch ein Stück Selbstentmachtung vorangetrieben wurde. Wer heute noch von einem ungebrochenen Haushaltsrecht spricht, der degradiert politisches Denken zur voluntaristischen Farce.
Im Übrigen müssen denkbare Finanznöte des ESM nicht nur zu geringen oder ausbleibenden Barzahlungen und Bürgschaften der ESM-Staaten geschuldet sein. Sie könnten auch gleichsam auf deren Verzehr zurückgehen, falls mehr gebraucht wird als vorhanden ist. Wie es in Artikel 3 des ESM-Vertrages heißt, hat dieser Kapitalfonds „Finanzmittel zu mobilisieren und ESM-Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, unter strikten, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes … unabdingbar ist“. Damit kann unter anderem gemeint sein, dass es der „Finanzstabilität“ in der Währungsunion dient, bei hochverschuldeten Euroländern Staatsanleihen zu erwerben oder einen Schuldenschnitt nach griechischem Muster zu erwägen, falls die Gläubiger mit ESM-Mitteln abgefunden werden.
Der zitierte Passus aus dem ESM-Vertrag kann ebenso einer Option gelten, die der ESM im Unterschied zum bisherigen Rettungsfonds EFSF wahrnehmen kann: Not leidende Banken ohne Umweg über die Euro-Staaten direkt mit Kapital zu verproviantieren, sobald eine europäische Bankenaufsicht installiert ist.
Wer sich allein die Bruttoschulden aller spanischen oder italienischen Geldhäuser von augenblicklich 3.685 Milliarden beziehungsweise 4.189 Milliarden Euro vor Augen hält, dem dürfte schnell klar sein, wie leicht der ESM erschöpft sein kann. Es wäre dann unumgänglich, nach „Hebeln“ zu suchen, sprich: zusätzliche Finanzierungsquellen zu nutzen, wie sie durch Artikel 21 des ESM-Vertrages benannt werden. Danach ist das ESM-Management – also der Gouverneursrat und das Direktorium – berechtigt, „zur Erfüllung seiner Aufgaben an den Kapitalmärkten bei Banken, Finanzinstituten und sonstigen Personen und Institutionen Kapital aufzunehmen“. Das klingt nicht nur nach einer Banklizenz, gegen die die Bundesregierung immer noch so vehement streitet; das kann quasi als Autorisierung dazu verstanden werden.
Eingreifreserve EZB
Bislang ist unter den Euro-Finanzministern umstritten, ob eine Kapitalaufnahme bei „sonstigen Personen und Institutionen“ das Recht einschließt, sich über die Europäische Zentralbank zu refinanzieren, die dafür exzellente Sicherheiten bietet und es beim ESM ihrerseits mit einem Partner à la bonne heure zu tun bekäme. Es sind immerhin Staaten und keine irrlichternden Finanzmarktakteure, die mit ihrem Engagement die Solvenz des ESM garantieren. Was sie einzahlen, und wofür sie bürgen, das sind genau genommen gebündelte Staatsanleihen in einer kollektiv verwalteten Haftungsunion.
Schließlich türmt auch die EZB-Satzung für mögliche Finanzbeziehungen mit dem ESM keinerlei Hindernisse auf. Dort steht im Artikel 18, der Zentralbank sei eine Kreditvergabe nicht nur an Kreditinstitute, sondern ebenso „an andere Marktteilnehmer“ erlaubt. Zu denen muss der ESM wohl gerechnet werden: Indem er Schuldenstaaten alimentiert, beeinflusst dieses Institut den Finanzmarkt ganz unmittelbar.
Der Artikel 32 des ESM-Vertrags scheint in diesem Kontext aufschlussreich. Demnach ist der künftige Stabilisierungsfonds „von jeglicher Zulassungs- und Lizenzierungspflicht, die nach dem Recht eines ESM-Mitglieds für Kreditinstitute, Finanzdienstleistungsunternehmen oder sonstige der Zulassungs- und Lizenzierungspflicht unterliegende Unternehmen gilt, befreit“. Man kann dies durchaus in dem Sinne deuten, dass der neue Rettungsfonds innerhalb der ESM-Staaten über nationalem Recht steht, falls es um eine Lizenzierungspflicht im Interbanken-Verkehr geht. Der Eindruck, dass hier ein Sonderrecht konstituiert ist, wird durch die ebenfalls in Artikel 32 des ESM-Vertrages verankerte Maßgabe verstärkt, wonach der ESM über eine eigenständige Rechtspersönlichkeit verfügt. Er ist mit seinem Eigentum und sämtlichen Vermögenswerten vor gerichtlichen Verfahren und polizeilichen Untersuchungen geschützt. Eine ebensolche Immunität sollen sämtliche Geschäftsräume der in Luxemburg angesiedelten Gremien des ESM beanspruchen, also der Gouverneursrat, das Direktorium sowie der geschäftsführende Direktor – der deutsche Manager und bisherige EFSF-Chef Klaus Regling – und sein Stab.
Es gilt insofern festzuhalten, dass der ESM in den Mitgliedsländern theoretisch wie eine Bank agieren kann, ohne eine Banklizenz zu brauchen. Und wie verhält es sich in Sachen Lizenzierung, wenn der ESM seine Ressourcen über die EZB anzureichern gedenkt? Was sagt die europäische Rechtsordnung dazu?
Ohne das nötige Dach
Wer das EU-Recht im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union buchstabengetreu auslegt, muss zu dem Schluss kommen, dass eine Refinanzierung des ESM durch die EZB ausgeschlossen ist. Sie würde gegen die in Artikel 125 des Vertrags festgeschriebene Nichtbeistands-Klausel (No-Bailout-Clause) verstoßen: EU-Mitgliedstaaten dürfen nicht für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedsstaaten aufkommen. Und die EZB ist nun einmal qua Statut und Finanzierung eine supranationale Staatsbank, wenn auch mit eigener Rechtspersönlichkeit, weil unabhängig. Wie beim Ankauf von Staatsanleihen verschuldeter Euro-Staaten zeigt sich auch hier, wie unregulierte Finanzmärkte eine Deregulierung des Rechts nach sich ziehen.
Es scheint nicht übertrieben, von rechtlichen Grauzonen zu sprechen, die sich für Inauguration und das Dasein des ESM abzeichnen. Dieser Kapitalfonds beansprucht Sonderrechte, um gegen mögliche Finanzierungsdefizite gewappnet zu sein. Wieder einmal führen die finanziellen Zwänge der Währungsunion dazu, mit dem ESM vollendete Tatsachen oder ein EU-Sonderrecht zu schaffen, ohne dass mit einer ausgehandelten – und nicht nur proklamierten – politischen Union der Euro-Partner das nötige Dach dafür vorhanden wäre.
ESM: 700 Milliarden Euro Stammkapital
Der neue Europäische Stabilitätsmechanismus ESM soll dauerhaft die Zahlungsfähigkeit aller 17 Euroländer garantieren. Von diesen werden Sicherheiten in bar (80 Milliarden Euro) und als Bürgschaften (620 Milliarden) beim ESM hinterlegt. Für wie viel jeder Staat aufkommen muss, richtet sich nach der Wirtschaftleistung und dem Bevölkerungsanteil in der EU.
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