Extrem verwundbar

Paris Wenn es stimmt, dass sich die Pariser Attentäter auf Syrien beriefen, dann bestätigt eine Novembernacht des Grauens, dass dieser Bürgerkrieg Europa erreicht hat
Am Tag nach den tödlichen Angriffen sind die Einschusslöcher in der Bar Le Carillon zu sehen – einer der sieben Orte, welche angegriffen wurden
Am Tag nach den tödlichen Angriffen sind die Einschusslöcher in der Bar Le Carillon zu sehen – einer der sieben Orte, welche angegriffen wurden

Foto: Antoine Antoniol/AFP/Getty Images

Es geht um Trauer, Anteilnahme und Mitgefühl, um eine Kultur der Zurückhaltung angesichts der Opfer, deren Zahl noch nicht feststeht. 120 Tote melden die Agenturen und ergänzen, dass bei so vielen Schwerverletzten die Zahl noch steigen kann. Mutmaßungen und Spekulationen über die Hintergründe des Massakers von Paris werden vom Entsetzen über die Grausamkeit der Täter überlagert. Nur was hilft es? Die Suche nach Erklärungen lässt sich nicht unterdrücken. Die Fragen werden kommen: Weshalb kam es zu einem solchen Gewaltakt im Herzen der Grande Nation, warum war der nicht zu verhindern oder wenigstens aufzuhalten? Wie konnte eine Millionenstadt in einen Zustand der Schutzlosigkeit geraten, dass ein Massenmord möglich wurde?

Parallelen zu 9/11

Man kann sich dagegen zur Wehr setzen, aber augenscheinlich gibt es keine ultimative Abwehr, die verhindert, was in der Nacht vom 13. zum 14. November geschehen ist. Seit den Anschlägen auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ Anfang des Jahres, den Geiselnahmen und Feuergefechten in den Tagen danach, seit dem Anschlag auf den Thalys-Zug 9364 Amsterdam-Paris am Abend des 21. August 2015 galten in Frankreich Sicherheitsvorkehrungen, die alles übertrafen, was bis dahin üblich war. Sie betrafen vor allem die Hauptstadt.

Doch hat sich damit offenkundig nicht verhindern lassen, dass es eine derart koordinierte, zielgerichtete und zügellose Aktion gab. Die reale Gefahrenlage rings um das Stade de France oder auch innerhalb der Sportstätte muss Geheimdienst und Polizei verborgen geblieben sein: Wie sonst ist zu erklären, dass 80.000 Zuschauer auf den Rängen waren und der französische Staatspräsident auf der Ehrentribüne saß, als das Länderspiel zwischen Deutschland und Frankreich angepfiffen wurde?

Wie nun die Gewalt an mehreren Orten in Paris buchstäblich exekutiert wurde, erinnert vom konzentrierten Vorgehen her, durch den ostentativen Vernichtungswillen wie den in Kauf genommenen Tod der Täter an den 11. September 2001 in New York und Washington. Die Verachtung des eigenen und die Verachtung fremden Lebens führen zu einem Gegner, der als Märtyrer sterben will. Dem zu entkommen, kann Glücksfall oder Glücksspiel sein. Ihn zu stellen, misslingt oder gelingt erst in einem letzten Gefecht.

Jedenfalls kann trotz aller Prävention, die der französische Staat enorm vorangetrieben und als unvermeidbar legitimiert hat, ein fortschreitender Kontrollverlust – der an Ohnmacht grenzt – nicht geleugnet werden. Es ist eine Tatsache, dass hoch entwickelte Gesellschaften wie die westeuropäischen auch hoch verwundbare Gesellschaften sind, die sich weder technisch noch militärisch restlos schützen lassen. Im Gegenteil, das Restrisiko steigt, was nicht zuletzt externen Faktoren geschuldet ist, auf die Überwachungs- und Kontrollsysteme kaum Einfluss haben.

Revanche und Rache

Keine Frage, Frankreich hat Feinde und sich Feinde gemacht. Das rührt aus seiner kolonialen Vergangenheit und der Brachialität, mit der etwa in den 50er und 60er Jahren versucht wurde, sich in Algerien zu behaupten. Dieser Bodensatz der Geschichte mag islamistischen Überzeugungstätern als Rechtfertigung dienen. Dennoch dürften Geschehnisse aus jüngster Zeit einflussreicher sein, deren Schauplatz in Nordafrika wie im Nahen Osten zu finden war. Durch mehrere Nahostkriege wurden staatliche Administrationen, militärische Strukturen und soziale Existenzen schwer beschädigt oder gänzlich ausgelöscht, dass der Wille zur Revanche eine logische Folge ist – im Irak, in Libyen, in Syrien.

Präsident Nicolas Sarkozy war ein vehementer Befürworter der Bombardierung Libyens und des Gaddafi-Sturzes 2011. Sein Nachfolger Hollande wollte sich in Syrien durch Luftschläge gegen den IS exponieren. Was hat hingegen den konservativen Staatschef Jacques Chirac im Frühjahr 2003 bewogen, sich nicht von George W. Bushs „Koalition der Willigen“ vereinnahmen zu lassen und nicht mit in den Irak einzumarschieren?

Wenn es stimmt, dass sich die Pariser Attentäter auf Syrien beriefen, dann bestätigt eine Novembernacht des Grauens, dass dieser Bürgerkrieg Europa erreicht hat. Wie er seit Monaten unablässig näher kam, daran ließen hunderttausende Menschen, welche nach Europa flüchteten, keinen Zweifel.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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