Fahne mit Loch

Selbsttäuschung Wie es kam, dass sich die Ostler als versierte Propheten in eigener Sache erwiesen
Ausgabe 35/2019
Weg mit Hammer und Sichel: Berliner feiern auf der Mauer, 1989
Weg mit Hammer und Sichel: Berliner feiern auf der Mauer, 1989

Foto: Imago Images/Imagebroker

Sind die Ostdeutschen gekränkt? Ist maulfurzige Bockigkeit, in die Gesichter gefräster Frust, die Hinwendung zur AfD Folge von Gekränktheit? Wer soll das wissen? Denkbar wäre es. Zu wünschen ist, dass möglichst vielen Zeitgenossen der paternalistische Westblick auffällt, der sich mit dieser Frage Geltung verschafft. Ungehaltene Verstimmtheit und bürgerlicher Anstand empören sich über den Osten wie über eine nächtliche Ruhestörung. Wir ertragen euch, und nun das. Wenn es ihn gibt, dann schreit der Gekränkte ob dieser Zumutung hoffentlich laut in sich hinein und bleibt dabei stumm, da er sich der Vergeblichkeit seines notorischen Reflexes bewusst ist. Und geht am Sonntag einfach wählen? Entscheidet sich für die AfD? Möglich. Die Arroganz des Westens ist die unverdiente Stärke dieser Partei, die aus dem Westen stammt und einem Teil des Ostens gelegen kommt, um auf Revanche, wenn nicht Rache bedacht zu sein bei diesen mit Bedeutung überfrachteten Landtagswahlen. Trifft das zu, und Anzeichen gibt es, ist dafür Vorgeschichte in die Verantwortung zu nehmen, in der sich Betrug und Selbstbetrug wenig schenken.

Ende 1989 tauchte zuerst bei Demonstrationen im Süden der DDR die verstümmelte Staatsflagge auf – Hammer, Zirkel und Ährenkranz waren herausgeschnitten aus dem Schwarz-Rot-Gold, das ebenso übrig blieb wie ein großes Loch mittendrin, welches gefüllt sein wollte. Die damals auf die Straße gingen und Deutschland, einig Vaterland riefen, kamen aus dem Mittelbau der Mitläufer, die Gesellschaften erhalten oder erschüttern. Sie waren der Straße bis dahin eher ferngeblieben. Doch nun tourte Helmut Kohl durch die moribunde DDR, als sei die bereits sein Land, und umgab sich mit der Aura des Wohltäters. Hielt man sich an das in der BRD vorherrschende DDR-Bild, lief das auf geistige Unzucht mit Unmündigen hinaus, war nicht ohne Risiko, sollte sich aber erst einmal lohnen. Am 18. März 1990 zur letzten DDR-Parlamentswahl bescherten die Kohl-Wähler der Allianz für Deutschland, geführt von der Ost-CDU als Kohl-Filiale, mit 48 Prozent einen erschlagenden Wahlsieg. Da konnte die Einheit kaum mehr als ein Anschluss sein. Und das zu Bedingungen, die von der DDR nichts groß zurückließen. Deren Bewohner ausgenommen, an denen das geschichtsübliche Exempel statuiert wurde: Wer verloren hat, der ist verloren. Wird an die Marktwirtschaft geglaubt wie an den Weihnachtsmann, dann erst recht. Volker Braun vergleicht die Entlassung fast der gesamten ostdeutschen Arbeiterklasse aus ihren Betrieben mit der Degradierung der deutschen Bauern im Bauernkrieg. Nun waren sie Hammer und Zirkel endgültig los. In das Loch fiel man nun selbst. Die Fahnenschneider hatten sich als Propheten in eigener Sache erwiesen.

Es liegt in der menschlichen Natur, dass Selbstbetrug, den man spürt, ohne ihn sich eingestehen zu wollen, zum Selbsthass führt. Den mit sich herumzutragen, ist kein Vergnügen. Er muss kompensiert werden. Durch Hass gegen andere. Auch durch eine ins Narzisstische greifende Selbstgerechtigkeit, wie uns die Feuilletons gerade wissen lassen, wenn sie über wohlstandsaffine SUV-Fahrer räsonieren, die von den Parkdecks ostdeutscher Shopping-Malls rollen? Damit das Setting stimmt, wäre noch der Hinweis angebracht, dass die vom Westen mit in die Einheit gebrachte Demokratie verdorben, weil verostet wurde. Hat man Brandenburg, Sachsen usw. nicht zu gutgläubig das Wahlrecht eingeräumt? Wir wissen schließlich dank Ines Geipel, dass im Ostler der Nazi seit 1945 wunderbar überwintern konnte, weil dies den SED-Bonzen vorzüglich in den Kram passte. Das ist kein Spleen, damit wird seit 30 Jahren Politik gemacht. Es zahlt sich aus, wie man sieht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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