Fahrlässig verspielt

Kernwaffen Die Sicherheitsarchitektur des bipolaren Zeitalters war besser als ihr Ruf
Ausgabe 26/2020
Atomraketen im Stützpunkt Cheyenne, Wyoming
Atomraketen im Stützpunkt Cheyenne, Wyoming

Foto: Michael Smith/Getty Images

Da es immer die anderen sind, von denen Gefahr ausgeht, gab es im Februar eine Stabsübung im Hauptquartier der US-Atomstreitkräfte. Für den hospitierenden Verteidigungsminister Mark Esper wurde das Szenario simuliert: Russland attackiert mit einer taktischen Kernwaffe einen osteuropäischen NATO-Staat, worauf die USA mit einem begrenzten Nuklearangriff reagieren. Das Pentagon legte später Wert auf die Mitteilung, so zu handeln sei möglich, ohne einen nicht mehr beherrschbaren Schlagabtausch zu riskieren. Eine beschwichtigende Floskel, es blieb offen, welches russische Ziel mit einer Rakete welcher Sprengkraft anvisiert wurde. Davon würde im Ernstfall die Antwort der Gegenseite abhängen – es sei denn, die russische Abwehr hätte den feindlichen Flugkörper in der Luft abfangen können. Doch wäre dadurch eine Eskalation vermeidbar gewesen?

Was ein solches Planspiel vom begrenzten Nuklearkrieg ausblendet, sind die Konsequenzen des 2002 erfolgten Ausstiegs der USA aus dem 1972 mit der Sowjetunion geschlossenen, von Russland übernommenen ABM-Vertrag. Seither sind der Dislozierung strategischer Abwehrsysteme keine Grenzen mehr gesetzt. Das Abkommen hatte die Raketenabwehr auf je zwei Systeme, dann nur noch auf einen zentralen Komplex der USA wie der UdSSR bzw. Russlands reduziert. Ein Angreifer sollte wissen, einem Gegenschlag relativ ungeschützt ausgesetzt zu sein. Das Fenster der Verwundbarkeit weit aufstoßen, um das der Angriffsfähigkeit zu verriegeln, so die Maxime. Wie kein Agreement sonst war das ABM-Regime das Rückgrat der geostrategischen Balance und stand für ein Axiom des bipolaren Zeitalters: keine thermonukleare Konfrontation. Schon gar nicht zwischen den beiden globalen Führungsmächten mit ihren überbordenden Arsenalen.

Um daraus resultierende Risiken zu minimieren, sahen sich Washington und Moskau in einer informellen Verantwortungsgemeinschaft, deren Grenzen man auslotete, nicht auslöschte. Als im November 1985 der damalige US-Präsident Reagan in Genf erstmals auf den sowjetischen Parteichef Gorbatschow traf, war im Kommuniqué zu lesen: „Ein Atomkrieg lässt sich nicht gewinnen und darf nie geführt werden.“ 1982 bereits hatte die sowjetische Regierung ihren Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen erklärt, was Gorbatschow 1987 vor den Vereinten Nationen wiederholte, verbunden mit dem Angebot, bei sämtlichen Atomwaffen auf die „Nulllösung“ zu setzen. So gab es bis 1990 eine Sicherheitsarchitektur, die trotz ideologischer Antagonismen ein hohes Maß an Berechenbarkeit garantierte. Es bedurfte des politischen Willens, daran festzuhalten, worauf Verlass war, weil die Vorteile auf der Hand lagen. Die meisten Abkommen schrieben häufige Inspektionen vor, was gegenseitigem Vertrauen zuträglich war. Die Kenntnis der sicherheitspolitischen Realität des jeweils anderen erleichterte es, sich über neue Waffenarten und deren Definition zu verständigen. Wann handelte sich um strategische Systeme, auch wenn die Reichweite von Trägerraketen nicht bei 8.000 Kilometern oder mehr lag? Wenn die USA, wie das derzeit geschieht, ihre U-Boot-Flotte, die auf den Weltmeeren patrouilliert und einer Kontinentalmacht wie Russland gefährlich werden kann, mit taktischen Atomraketen aufrüsten, was bedeutet das? Haben sie eine strategische Dimension, wenn sie russisches Territorium wie Interkontinentalraketen erreichen können? Und wie verhält es sich mit vom New-START-Vertrag nicht erfassten taktischen Atombomben Russlands, deren Trägersysteme modernisiert wurden? Bis 1990 war davon auszugehen, dass Rüstungskontrolle oder gar Abrüstung zum politischen Spannungsabfall zwischen den Supermächten führte. Heute dagegen sind die politischen Spannungen zwischen den USA und Russland, aber auch den USA und China von so elementarer Wucht, dass zumindest für die US-Regierung neue Atomverträge nur hinnehmbar sind, wenn sie daran nichts ändern.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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