Es war am 20. Januar 1942 eine Einladung auch zum kameradschaftlichen Frühstück, dem anschließenden Kognak am Kamin. Abgeschiedenheit und Idylle der Villa am Großen Wannsee Nr. 56/58 laden zum Verweilen, doch die Zeit drängt. "In Anbetracht der außerordentlichen Bedeutung, die diesen Fragen zuzumessen ist", sei kein weiterer Aufschub zulässig, hatte SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich in seinem Einladungsschreiben vom 8. Januar 1942 an die Vertreter der "Zentralinstanzen" des Deutschen Reiches wissen lassen.
Heydrichs Vorgesetzter, der Reichsführer SS Heinrich Himmler, soll kurz vor dem 20. Januar 1942 befürchtet haben, die Behörden könnten "kriegsbedingte Schwierigkeiten" geltend machen bei der "Endlösung" für elf Millionen europäische Juden. Aber schon nach knapp zwei Stunden bleibt Zeit für die schöne Umgebung, gegen 14.00 Uhr kann im Terrassenzimmer neben dem Konferenzraum der angekündigte Imbiss gereicht werden. Die "Zentralinstanzen" - von der Parteikanzlei, dem Reichsinnenminister über das Auswärtige Amt bis zur Reichsbahn und dem Reichssicherheitshauptamt -, mit einem Wort, die Partei- und Ministerialbürokratie des Dritten Reiches hat die "historische Aufgabe" verstanden. Zugfahrpläne werden bis auf die Minute stimmen. Namenslisten liegen bereit. Begleitkommandos sind zusammengestellt, die Gaskammern und "neuen Öfen" getestet. Absolute Verlässlichkeit, gerade in Kriegszeiten kommt es darauf an. Ein reibungsloser Verlauf für die "Endlösung" ...
Fünf Monate später ...
... im Juni 1942, erreicht ein Brief die Altonaer Straße 11, in Berlin-Moabit. Eine gutbürgerliche Wohngegend mit Tuchfühlung zum Tiergarten. Im vierten Stock des Hauses Nummer 11 am Spree-Ufer wohnt Mathilde Jacob, die sich seit einiger Zeit "Mathel Jacob" nennt, um nicht den Vornamen Sara annehmen zu müssen. Seit September 1941 trägt sie außerhalb ihrer Wohnung vorschriftsmäßig einen "handtellergroßen, schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit der schwarzen Aufschrift Jude gut lesbar" auf der linken Brustseite. Im Juni 1942 ist Mathilde Jacob 69 Jahre alt, lebt von 37,80 Reichsmark Rente, gelegentlichen Schreibarbeiten. Mit dem Brief wird ihr die Deportation nach Osten angekündigt.
Vor der Abschiebung aus dem Reich verlangt der Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg, eine "Vermögenserklärung" zu sehen. Diese Erklärung beginnt mit Angaben zu Person und Wohnung. Auf 18 Seiten folgen Fragen nach sämtlichen im Haushalt befindlichen Gegenständen, zu Mobiliar und Vermögenswerten, auf der Seite 18 selbst nach "Gesellschaftskleidern, Kostümen, Wollkleidern, Seidenkleidern, Röcken, Blusen, Pullovern, Pelzen, Morgenröcken, Hausanzügen ..."
Die Erklärung endet mit dem vorgedruckten Satz: "Ich versichere, vorstehende Angaben nach bestem Gewissen gemacht zu haben. Mir ist bewußt, daß falsche oder unvollständige Angaben geahndet werden."
Was Mathilde Jacob Seite für Seite einträgt, gehört ihr schon nicht mehr. Bereits am 1. Juli 1942 hat das Geheime Staatspolizeiamt, "die Einziehung des gesamten Vermögens der Reichsfeindin Mathel Jacob zugunsten des Deutschen Reiches" verfügt.
Als sie am 18. Juli 1942 ihre "Vermögenserklärung" unterschreibt, weiß Mathilde Jacob davon noch nichts. Vier Tage später verlässt sie die Altonaer Straße 11 für immer.
Der 30. Alterstransport ...
... aus Berlin wird von der Gestapo im jüdischen Altersheim, gelegen in der Großen Hamburger Straße 26, zusammengestellt. Mathilde Jacob (Kennkarten-Nummer A 050228) erhält die Transportnummer 28 - die Liste endet mit der Nummer 102. 102 Frauen und Männer, alle über 60 Jahre alt. Mehrere Tage verbringen sie im Altersheim. Von dort fällt ihr Blick auf den ältesten jüdischen Friedhof Berlins mit dem Grab des Philosophen Moses Mendelssohn, das die Gestapo - wie fast alle anderen Gräber auch - im Winter 1943 zerstören wird.
Die Urkunde des Gerichtsvollziehers "über die Einziehung des Vermögens" wird mit Poststempel vom 24. Juli 1942 bereits in die Große Hamburger Straße 26 geschickt. Kurz vor ihrem Abtransport erfährt Mathilde Jacob, dass sie nichts mehr besitzt. Eine Inventarbewertung wird am 24. September 1942 einen Schätzpreis für ihre Möbel von 343 Reichsmark ergeben.
Am 27. Juli 1942 gegen zwei Uhr nachts helfen sich die alten Leute auf die Ladeflächen zweier Lastkraftwagen in der Großen Hamburger. Die Fahrzeuge biegen zunächst in die Oranienburger Straße, fahren über die Friedrich- und Leipziger Straße in Richtung Anhalter Bahnhof. Erlaubt sind die Mitnahme eines Koffers pro Person, dazu Decken, Verpflegung für 14 Tage. Nicht erlaubt sind Wertpapiere, Schmuck, Devisen, die ohnehin niemand mehr besitzt. Nach einer Vereinbarung zwischen der Gestapo und der Deutschen Reichsbahn gehen die Transporte über Dresden nach Theresienstadt - an Dresden 7.04 Uhr, ab Dresden 7.20 Uhr, an Lobositz 10.52 Uhr, ab Lobositz 11.15 Uhr, fahrplanmäßige Ankunft an Theresienstadt 11.26 Uhr.
Mathilde Jacob fährt ab, vor sich den Tod, hinter sich fast 70 Lebensjahre in Berlin, die nun ausgelöscht werden.
Die Ämter des Reiches ...
... sind noch mit ihrem Nachlass beschäftigt, als sich Mathildes Spur schon zu verlieren beginnt. Am 15. Oktober - drei Monate nach der Deportation - reklamiert die Wilmersdorfer Firma Hermann Brack Co., Vermieter der Wohnung in der Altonaer Str. 11: die Jüdin sei verpflichtet, die Kosten für eine Instandsetzung zu tragen. Außerdem - so Vermieter Brack - wurde seit August 1942 keine Miete mehr gezahlt.
Am 24. Oktober 1942 reagiert die Oberfinanzkasse, Hermann Brack Co. werden 202 Reichsmark angewiesen.
Keinen Anlass zu Reklamationen haben die Firmen Schneider und Scheffler. Sie verkaufen das Mobiliar sowie einen Teil der Kleidung. In der Elsässerstraße 85 in Berlin-Mitte auf dem Hof der Spedition Scheffler treffen Bett, Schränke, Tische, Stühle der Mathilde Jacob ein, werden umgeladen, gelagert, verkauft.
Am 12. Oktober 1942 meldet sich der Bestattungs- und Versicherungsverein Volkswohlbund beim Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg. Mathilde Jacob habe aus ihrer Bestattungsversicherung 66 Reichsmark zu beanspruchen. Da der Volkswohlbund aber eine Beisetzung seiner einstigen Klientin in Berlin oder irgendwo sonst im Reich ausschließe, wolle er das Geld der Oberfinanzverwaltung zur Verfügung stellen. Der Diensteifer des Volkswohlbundes findet sich mit einem Schreiben des Oberfinanzpräsidenten belohnt. "Das Vermögen der abgeschobenen Jüdin, zuletzt wohnhaft in Berlin, Altonaer Str. 11, ist durch Verfügung des Geheimen Staatspolizeiamtes, der Betroffenen zugestellt am 24. Juli 42, zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen, also auch die 66 Reichsmark."
Damit schließen sich die Akten. Ein Leben ist entsorgt.
Lebenszeichen aus Theresienstadt gibt es nicht.
Mathilde Jacob bleibt verschollen.
Vermutlich ist sie 1943 ums Leben gekommen, unter welchen Umständen weiß niemand.
Eine vor wenigen Jahren in Israel entdeckte Registratur aus dem Krematorium Theresienstadt nennt ein Datum: 14. April 1943.
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