Fanfarenstoß gegen die NATO

Raketenabwehr Im Streit um den geplanten Raketenschild sieht Russland das Abschreckungspotential seiner Nukleararsenale bedroht. Die Zeit der Friedfertigkeit ist vorbei

Michail Gorbatschow gilt nicht mehr viel in Russland. Als Totengräber der Sowjetunion geschmäht, wird auch sein geistiges Erbe ignoriert. Es hat als „Neues Denken“ einst Geschichte geschrieben und geholfen, eine Weltordnung aus den Angeln zu heben. Wer erinnert sich noch seiner Beteuerungen, die eigenen Streitkräfte würden allein zur Landesverteidigung gebraucht, jedoch niemals den ersten Schlag führen? Russlands heutiger Generalstabschef Nikolai Makarow offenbar nicht. Für ihn ist die Zeit der Friedfertigkeit vorbei. Sollte die NATO neue Abwehrraketen stationieren, könne sein Land einen Präventivschlag gegen derartige Brückenköpfe nicht mehr ausschließen, teilt er lakonisch mit. Ein resolutes Statement, formuliert kurz bevor Wladimir Putin seine dritte Präsidentschaft antritt.

Putin macht keinerlei Anstalten, dem NATO-Gipfel Ende Mai in Chicago einen Besuch abzustatten. Dort sei keine sinnvolle Debatte mit den Spitzen der Allianz über den geplanten Raketenschild zu erwarten, heißt es aus Moskau. Dieser kühle Befund muss keine neue Eiszeit zwischen Russland und der NATO anzeigen. Vielmehr setzen der Fanfarenstoß Makarows und die Gipfelabstinenz Putins ein politisches Signal, weil Moskau eine westliche Raketenabwehr zu Recht auch als politisches Manöver begreift.

Wenn Teile des dafür be­nötigten Equipments – von Abschussrampen für SM-3-Ab­fangraketen bis zu Aegis- Lenkwaffensystemen auf US-Kriegsschiffen im Persischen Golf wie im Arabischen Meer – in Position gebracht werden, wirken die dazu in Brüssel abgegebenen Erklärungen wenig glaubwürdig. Man stelle sich auf iranische Atomwaffen ein, heißt es dort. Auf die Nordkoreas und anderer Staaten natürlich auch. Gemeint sind Arsenale, die es entweder gar nicht gibt oder denen die strategische Qualität fehlt, NATO-Gebiet zu erreichen. Was es hingegen gibt, sind russische Interkontinentalraketen und mit ähnlichen Flugkörpern bestückte russische U-Boote, die über die genannten Abwehrsysteme sehr wohl zu neutralisieren wären. Warum sollte Moskau dem ergeben zusehen wie vor Jahr und Tag der Osterweiterung der NATO?

Da sie zu gegenseitiger Vernichtung führen und deshalb als Kriegsgerät nicht wirklich taugen, dienen Nukleararsenale seit Jahrzehnten zur reinen Machtprojektion. In deren Schutz lassen sich durch atomare Überlegenheit abgesicherte konventionelle Kriege führen. Mit deren Hilfe kann ein Drohpotenzial aufgebaut werden, das zwar keine Berge, aber gegebenenfalls Grenzen versetzt. Nicht unbedingt zwischen Staaten. Es geht um Grenzen für den Aktionsradius von Militärbündnissen oder von Einflusssphären auf der Erde wie im Kosmos. Welche Großmacht schätzt sie nicht – die „politischen Kernwaffen“, mit denen man sich sicher und satisfaktionsfähig fühlt? Mit diesem Gefühl ist es freilich vorbei, sobald in Zweifel steht, ob nuklear bestückte Offensivraketen im Ernstfall ihre Ziele erreichen, weil sie zuvor abgefangen werden. Darin besteht ja die teuflische Dialektik des Nuklearzeitalters, Atomwaffen nicht einsetzen zu dürfen, aber den Eindruck zu erwecken, sie jederzeit einsetzen zu können. Niemand will es hinnehmen, dass diese Absicht an politischer Schlagkraft verliert. Auch Russland nicht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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