In Indochina hypnotisierte die Amerikaner Ende der sechziger Jahre der Glaube, sollte Südvietnam gegen den sozialistischen Norden nicht gehalten werden, könne man auch Kambodscha und Laos aufgeben, vielleicht sogar Thailand. Und gab es nicht auf den Philippinen eine starke kommunistische Untergrundarmee, die sich am Sieg des Vietcong ein Beispiel nehmen könnte?
Das erwartete Ausscheren ganzer Staatengruppen aus dem Patronat der USA, wenn der entscheidende Domino-Stein fiel, nannte sich Domino-Theorie. Das Wort geriet in Verruf und außer Gebrauch, als die US-Armee nach dem Pariser Vietnam-Abkommen vom Januar 1973 Indochina schlagartig den Rücken kehrte. Hätten der damalige Präsident Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger an die Domino-Theorie geglaubt oder diese zumindest so ernst genommen, wie bis dahin suggeriert, hätten sie bleiben müssen. Aber sie ahnten vermutlich, in Südostasien würde die Theorie ihren Praxitest nur bedingt bestehen. Wohl stellten sich Laos und Kamboscha (Letzteres erst nach der ultramaoistischen Bartholomäus-Nacht der Roten Khmer) als Alliierte an die Seite eines 1976 wiedervereinigten und sozialistischen Vietnam, ansonsten aber grassierte in der Region kein Virus des Wandels.
Moralisch eskortiert
Derzeit erlebt die Domino-Theorie eine wenig erstaunliche Wiederauferstehung. Auch wenn das Wort nicht fällt, handelt die US-Regierung in der Überzeugung: Sollte Afghanistan verloren gehen und dort die Taliban-Führung in irgendeiner Weise an der Macht beteiligt werden, droht auch Pakistan talibanisiert zu werden – und zu fallen. Denn außerhalb der Machtkathedralen Karatschi und Islamabad sind die Taliban nicht nur militärisch handlungsfähig, sondern mindestens genauso – wenn nicht sogar stärker – verwurzelt als in Afghanistan. Exekutive, Armee und Geheimdienst waren schließlich einst deren Schirmherren und Paten. Die Wiege der Taliban stand nicht in Kandahar oder Laschkarga (Helmand), sie befand sich während der achtziger Jahre in den Madrasa, den traditionellen Religionsschulen in den pakistanischen Grenzräumen zu Afghanistan. Die Zahl dieser Lehrstätten wuchs zur Zeit des islamisch orientierten Präsidenten Zia ul-Haq, der Pakistan zwischen 1971 und 1988 diktatorisch regierte, von 900 auf 8.000. Die Ausbilder rekrutierten junge Pakistani ebenso wie aus Afghanistan geflüchtete Paschtunen. Gut ausgebildet sickerten sie später aus Pakistan in Afghanistan ein – militärisch, moralisch und ideologisch eskortiert von den Amerikanern, die in diesen entschlossenen Glaubenskriegern Handlanger sahen, um der sowjetischen Besatzung den Todesstoß zu versetzen.
Kayanis Affront
Kein Wunder also, dass Pakistan im Zentrum aller Kriegsstrategien des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama steht, dessen Afghanistan-Oberkommando unter General McChrystal das Land mit Hochdruck zur amerikanischen Festung um- und ausbauen lässt. Was nur eine Konsequenz haben kann, der schon immer unsichere Kantonist wird noch unsicherer. Das innere Ressentiment gegen eine solche Vereinnahmung dürfte sich schwerlich kanalisieren lassen und der Anti-Amerikanismus Dimensionen erreichen wie vor 2001, als Pakistan neben Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) der einzige Staat war, der die Taliban-Regierung in Kabul diplomatisch anerkannt hatte.
Partner der Amerikaner bei ihren Schanzarbeiten rings um das pakistanische Fort kann nur die dortige Armee sein, die bekanntlich islamistischer Neigungen nicht unverdächtig ist. Sie wird künftig davon kaum etwas abstreifen, aber die Situation ausnutzen, um der schwachen Regierung des Präsidenten Zardari noch mehr politisches Terrain abzunehmen. Gerade hat Generalstabschef, General Kayani das in seiner Großzügigkeit einmalige US-Unterstützungspaket als Beleidigung für Pakistan zurückgewiesen. Wenn ein Oberkommandierender derart selbstbewusst handelt und seiner so sicher ist – wie kann es dann sein, dass ein kleines Taliban-Kommando im Handstreich das Hauptquartier der Armee in Rwalapindi stürmt, wie das in den Morgenstunden des 10. Oktober geschehen ist? Die Zitadelle der Streitkräfte eine leichte – eine dargebotene Beute? Wer hat hier wem die Hand geführt? Wer sollte zum Handeln gedrängt werden?
Die Ankündigung der Offensive in den so genannten Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan erfolgt auffallend prompt, nachdem drei Operationen des gleichen Auftrags und Musters seit 2008 gescheitert sind. Legitimiert sich General Kayani vor den Sympathisanten der Taliban in Armee und Geheimdienst, indem er zu verstehen gibt, nach den Ereignissen von Rawalpindi keine andere Wahl zu haben, als den US-Militärs nachzugeben und im Nordwesten zum Gegenstoß anzutreten? Vieles spricht dafür und darf als Hinweise darauf verstanden werden, dass die Domino-Theorie nicht nur für die gegenseitige Beeinflussung von Afghanistan und Pakistan gilt, sondern auch in diesen Ländern selbst. Deshalb wird Präsident Karzai trotz eines gigantischen Wahlbetrugs nicht fallen gelassen, deshalb kann auch General Kayani weiter so agieren, wie er es tut. Auch diese beiden sind Domino-Steine, die man nicht folgenlos aus dem Spiel nimmt.
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