Finale in Idlib

Syrien In der Nordprovinz zeigen sich die Grenzen der Türkei, die Präsident Erdoğan im Nahen Osten gern als Regionalmacht etabliert hätte
Für die syrische Bevölkerung in Idlib werden Schutzzonen eingerichtet
Für die syrische Bevölkerung in Idlib werden Schutzzonen eingerichtet

Foto: Burak Kara / Getty Images Europe

Als Eroberer hat sich Präsident Erdoğan schon mehrfach ins Szene gesetzt, wenn es um den türkischen Anteil am syrischen Drama ging. Nun scheint dieser Part nicht nur ausgereizt, sondern kaum mehr aussichtsreich. Die Folge davon, der Eroberer sucht sein Heil als Erpresser, um EU und NATO in die Pflicht zu nehmen, ihm in der syrischen Nordprovinz Idlib beizustehen. Nur wie?

Recep Tayyip Erdoğan dürfte das realpolitische Gespür nicht soweit verlassen haben, dass er allen Ernstes mit militärischem Beistand rechnet. Eher werden Rechtfertigungen und Begründungen gesucht, weshalb ein Zurückweichen unausweichlich ist. Folgende Versionen bieten sich an: Weil die Verbündeten uns im Stich lassen, bleiben wir Einzeltäter. Weil wir nicht Tag für Tag türkische Soldaten opfern wollen, können wir der Assad-Armee nicht so Einhalt gebieten, wie das nötig wäre. Weil sie uns die Flüchtlinge aus Idlib allein überlässt, wird die EU einen hohen Preis dafür zahlen. Weil das alles so ist, bleibt nur die Suche nach einem weiteren Agreement mit Russland (das freilich nicht mit Flüchtlingen erpresst werden kann, wäre anzufügen).

Es bleibt demnach dem Treffen Erdoğan-Putin Mitte der Woche vorbehalten, einen Ausweg zu finden, der türkisches Militär nicht sofort zum Abzug aus Iblib zwingt. Zeitgewinn schützt Erdoğan vor Prestigeverlust.

An Grenzen gestoßen

Ungeachtet dessen steht fest: Kehren nach Idlib die Souveränität und Integrität des syrischen Staates zurück, dann hat das Lager von Präsident Assad den Syrien-Konflikt definitiv überlebt. Von einem Triumph oder Sieg sollte man nicht reden angesichts des Zustandes, in dem sich das Land und seine Gesellschaft befinden. Dann hat sich gleichzeitig die neoosmanische Ambition der derzeitigen Führung in Ankara erledigt, durch einen Regime Change in Damaskus über ein sunnitisch beherrschtes Syrien regionale Hegemonie zu etablieren. Dann ist eine Regionalmacht an Grenzen gestoßen. Denen hat sich die Türkei mit Expansionsdrang und nationalem Übermut beharrlich genähert, bis sie in Idlib erreicht worden sind. Die von türkischen Soldaten dort – noch – verteidigten Enklaven islamistischer Rebellen des Anti-Assad-Lagers zeigen an, dass die Regional- zur Lokalmacht schrumpft, weil sie damit Syrien und Russland nicht ernsthaft herausfordern kann.

Präsident Erdoğan muss sich damit abfinden, dass der türkische Fuß in der nahöstlichen Tür umso lädierter sein wird, je länger er hineingehalten wird.

Kombattantenstatus vermieden

Was heißt das für die NATO? Sie tut zunächst einmal gut daran, Kräfteverhältnisse anzuerkennen. Sie befindet sich gegenüber Ankara in keinerlei Beistandpflicht, da die Türkei weder einem Angriff von außen ausgesetzt ist noch aus anderen Gründen den Verteidigungs- und somit Bündnisfall reklamieren kann. Will Erdoğan dennoch Handlungsdruck erzeugen, dürfte das bei den maßgebenden NATO-Regierungen noch aus einem anderen Grund auf Bedenken stoßen. Wird seine Präsenz in Idlib unterstützt, warum sollte dann türkischen Einheiten nicht ebenso in den weiter östlich gelegenen kurdischen Gebieten beigestanden werden, die seit Herbst 2019 besetzt sind?

Die westliche Allianz würde sich mit Völkerrechtsbruch, Intervention und Landnahme verbünden, von den militärischen Risiken einmal abgesehen. Zudem wäre ein politischer Offenbarungseid unumgänglich: Es würde gegen die syrischen Kurden gehen, deren Wille zur Selbstbestimmung bisher im Westen stets gutgeheißen, wenn nicht hofiert wurde.

Das Entscheidende ist jedoch: Die NATO hat einen Kombattantenstatus in Syrien bisher vermieden, um nicht als Kriegspartei in einem Weltkonflikt verstrickt zu werden. Das war und bleibt die rote Linie – weshalb sollte sie ausgerechnet jetzt überschritten werden? Das von Erdoğan inszenierte Flüchtlingsdrama an der griechisch-türkischen Grenze erfüllt mit solcher Hingabe den Tatbestand der Nötigung, dass man dem nicht nachgeben wird.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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