Fraktur der Seelen

Abkehr Osteuropa begehrt auf. Die neue Regierung in Polen schert sich wenig um EU-Normen und steht nicht allein. Die Rückbesinnung auf mehr nationale Identität ist unübersehbar
Ungarns Premier Viktor Orbán auf einer der Visegrád-Konferenzen
Ungarns Premier Viktor Orbán auf einer der Visegrád-Konferenzen

Foto: Michal Cizek / AFP - Getty Images

Es herrschen nicht nur Skepsis und Verweigerung. In einigen Staaten Osteuropas schält sich ein Gegenentwurf zum europäischen Muster heraus, wie es die EU für sich in Anspruch nimmt und in Verträge schreibt. Wer das als bewusste Abkehr von Europa deutet, mag übertreiben – eine Provokation ist es allemal.

EU-Normen werden in der Gewissheit gebrochen, dass weder Sanktionen noch eine Suspendierung aus dem europäischen Verbund drohen, wenn jemand derart aufbegehrt – und sündigt. Tugenden, die bei der EU-Aufnahme nachzuweisen waren, werden in Warschau, Bratislava, Budapest und Zagreb, teilweise auch in den baltischen Staaten, demonstrativ verworfen und durch politisches Handeln konterkariert.

Die neue polnische Regierung der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) macht nicht die geringsten Anstalten, der autoritären Versuchung zu widerstehen. Sie bricht mit der Gewaltenteilung und degradiert das Verfassungsgericht zum willfährigen Adressaten parteiischer Personalpolitik. Das Vorgänger-Parlament hatte drei Verfassungsrichter neu gewählt, doch weigerte sich Präsident Andrzej Duda (ebenfalls PiS), die Juristen zu vereidigen. Stattdessen ließ die neue Regierung das Parlament, in dem sie über eine Mehrheit verfügt, gleich alle fünf Verfassungsrichter neu wählen, denen Duda umgehend den Amtseid abnahm, weil sie als PiS-Parteigänger galten.

Ungarns Premier Viktor Orbán verändert seit 2009 die Verfassung nach eigenem Gutdünken und bedient den Trend zum autokratischen System. Der slowakische Premier Fico klagt vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den Quotenbeschluss der EU-Innenminister vom September zur Verteilung von 120.000 Asylsuchenden. Dieses Ausscheren aus einem Minimalkonsens europäischer Solidarität wird von den anderen Staaten der Visegrád-Gruppe (außer der Slowakei zählen dazu Polen, Tschechien, Ungarn) mitgetragen. Als wäre nicht in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages verankert: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“

Geostrategische Vollendung

Würden die Staaten Osteuropas heute wegen ihrer EU-Tauglichkeit evaluiert, müsste man sie abweisen. Was freilich an die Voraussetzung gebunden wäre, dass sich das geostrategische Motiv der EU-Osterweiterung erledigt hat. Dergleichen ist nicht der Fall – weder der Westen noch der nichtrussische Osten Europas haben ein Interessen daran, am bündnispolitischen Status quo zu rütteln. Ausnahmslos alle Staaten Osteuropas betrachten die Mitgliedschaft in EU und NATO als Lebensversicherung, die ihren Bündniswechsel von 1990/91 garantiert. Die Legitimation der Transformationseliten im politischen Überbau von Estland bis Rumänien speist sich – bei allen Unterschieden – bis heute aus der Abkehr von Moskau . Das „Nie wieder!“ aufzugeben, die Beteuerung zu relativieren, Beziehungen auszuschließen, wie sie bis 1990 mit der UdSSR bestanden – das wäre von delegitimierender, vielleicht selbstmörderischer Wirkung.Es würde damit eine Bedrohungslegende aufgebrochen, auf die sich die Expansion eines ganzen Bündnissystems seit 1990 stützt.

Bei aller Entfremdung zwischen Brüssel und Warschau oder Brüssel und Budapest gelten nach wie vor jene strategischen Kausalitäten, die im Mai 2004 zum Beitritt der ersten acht MOE-Länder zur EU führten: Den Subkontinent des Systemtransfers im Osten als unverzichtbare Macht- und Marktressource des Westens zu halten. Die Osterweiterung war die geostrategische Vollendung des Epochenbruchs von 1990, um die EU als globale Macht zu etablieren und Russland zu bedeuten: Der Verlust früherer Alliierter ist unumkehrbar.

Eben deshalb hatte sich die NATO bereits 1999 eine erste Ostausdehnung genehmigt, die bis heute nicht abgeschlossen ist, denkt man an die angekündigte Aufnahme Montenegros und die Begehren Georgiens wie der Ukraine.

Was kann schon passieren?

Ungeachtet dessen mussten sich die EU-Debütanten damit arrangieren, dass sich die 1990 errungene nationale erneut mit einer vergemeinschafteten Souveränität messen musste. In der Regel wird die Osterweiterung als Staatenzuwachs für die EU gedeutet und übersehen, dass es sich zugleich um einen Terraingewinn gehandelt hat, der auf sozialökonomischer Konvergenz fußt und Volkswirtschaften zu Filialökonomien des Westens mutieren lässt. Mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk spricht von „einer Art neuer Kolonisierung“: „Die sowjetische Kolonisation ist vorbei, eine neue – die europäische – hat begonnen. In einer Softversion, gewiss, aber es ist doch eine Kolonisation.“

Man könnte auch von Entfremdung reden, die eine Flut von Gefühlen und Empfindungen auslöst, die mit einer (Rück-)Besinnung auf nationale Identität zu tun hat. Daraus ergibt sich heute für Parteien wie die PiS ein ebenso ergiebiges Terrain, wie es denen zufiel, die gleich nach 1990 den Weg nach Europa als Königsweg ins Gelobte Land priesen und daraus ihrerseits Legitimation schöpften. Die damalige Verleugnung der eigenen, nur eben anderen europäischen Identität trug maßgeblich dazu bei, dass heute der Wiedergewinn nationaler Identität so hoch im Kurs steht. Dabei verfällt etwa die regierende PiS einem fast anthropologisch anmutenden Revierreflex. Eine Nation, die Zuflucht bei sich selbst sucht, verbirgt eine Fraktur der Seele. Dahinter steckt mehr als nur das Ressentiment gegen die Fremden, mit denen die Herberge nicht geteilt werden soll.

Im Westen des Kontinents, nicht zuletzt in Deutschland, schrieb und redete man sich die neuen Partner nicht nur jahreang schön, sondern träumte sie sich gefügig und dankbar. Doch ist es mit der erbötigen Demut einstiger EU-Aspiranten nicht mehr weit her. Sie haben sich emanzipiert, nicht zuletzt von sich selbst. Sie leisten sich Dissidenz in dem Bewusstsein, dass nicht viel passieren kann – Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen hin oder her

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