Soll das Modell TTIP auch in den Weiten Russlands reüssieren? Weniger ein Europa der gemeinsamen Sicherheit, wie es Präsident Wladimir Putin oft angeregt hat, als ein Europa des Freihandels, schwebt Angela Merkel vor. Als Partner kommen für sie die EU und die soeben gegründete Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) in Betracht. Die Offerte der Kanzlerin – formuliert auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos – verblüfft. Sie wirkt wie eine Kehrtwende. Immerhin wurde die Integrationsrivalität zwischen der östlichen Zollunion (Russland, Belarus, Kasachstan) und der EU um die Ukraine zum Auslöser eines Konflikts, der sich kaum mehr eindämmen lässt. Und wie verträgt sich ein solches Angebot mit den Sanktionen gegen Russland?
Es könnte Merkel um ein Junktim gehen: Freihandel gegen Ukraine-Abstinenz. Fraglich, ob Moskau darauf eingeht. Das Ganze wirkt realpolitisch wenig grundiert. Russland ist nicht um wirtschaftlicher Vorteile wegen im Ringen um die Ukraine derart exponiert. Zudem hat Merkels Vorstoß einen entscheidenden Makel. Er richtet sich nur an die russische, nicht an die Regierungen in Minsk, Astana, Jerewan und Bischkek. Seit dem 1. Januar gehören auch Belarus, Kasachstan und Armenien zur EAWU, während Kirgisistan noch in der Warteschleife kreist. Diese Staaten sollten gleichfalls angesprochen werden. Sonst entsteht der Eindruck, Deutschland behandelt sie wie Satelliten Russlands, denen es an Souveränität fehlt, selbst zu befinden, was sie wollen.
Frommer Wunsch
Auch wenn es der Merkel-Idee an politischer Konsistenz fehlt, für die wirtschaftliche Logik gilt das weniger. Die EAWU nimmt erkennbar Anleihen bei der EU. Ihr Fundament ist eine Zollunion wie einst bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der mit den Römischen Verträgen (1957) begründete Gemeinsame Markt. Anfang 2010 einigten sich Russland, Belarus und Kasachstan auf einen zollfreien Handel. Sie wollten die Ukraine einbeziehen, wozu es wegen der zwischen Brüssel und Moskau lavierenden Politik des Präsidenten Wiktor Janukowitsch jedoch nie kam.
Das Muster EU zeigt sich ebenso bei der seit 2012 in Moskau ansässigen Eurasischen Wirtschaftskommission, die der EU-Kommission ähnelt. Auch die im EAWU-Vertrag vom 29. Mai 2014 verankerten Absichten, ein einheitlicher Wirtschaftsraum zu sein, einen ebensolchen Energiemarkt zu bedienen und sich einer Währungsunion anzunähern, verweist auf Parallelen. Freilich verdienen diese Optionen bisher nur das Label „Utopie und Vision“. Es handelt sich mit der EAWU nicht um den ersten Integrationsversuch im postsowjetischen Raum. Dabei blieb die Wirtschaftsunion der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Mitte der neunziger Jahre ebenso ein frommer Wunsch wie die spätere Freihandelszone zwischen Russland, Belarus, Kasachstan, Tadschikistan und Kirgisistan.
Gibt es mit der EAWU nun einen Quantensprung, ist dies einem Vertragswerk geschuldet, das die vielen „Road Maps“ aus dem ersten postsowjetischen Jahrzehnt übertrifft. Um so mehr muss zwischen Kern- und Beitrittsstaaten unterschieden werden. Die Wachstumsressourcen sind zwischen Russland, Belarus und Kasachstan einerseits sowie den EAWU-Aspiranten Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan andererseits einfach zu ungleich verteilt.
Langer Schatten
Wie wird man darauf reagieren? Das geltende Regelwerk aufweichen und lieber auf die geopolitische Wucht eines solchen Staatenblocks setzen, was Russland als Führungsmacht entgegenkäme? Ohne Ukraine-Krise wäre diese Frage bestenfalls vorentschieden, so aber dominieren geostrategische Motive die ökonomischen. Vorerst gilt die Devise, je mehr Mitglieder die EAWU vereint, desto besser. Allein so lasse sich der EU mit ihrer „Östlichen Partnerschaft“ Paroli bieten und gegenüber China Ebenbürtigkeit demonstrieren, mag die Regierung Putin überzeugt sein.
Ob sich Belarus und Kasachstan auf Dauer für russische Interessen vereinahmen lassen, darf bezweifelt werden. Minsk und Astana haben das Krim-Referendum vom 16. März 2014 und den Eintritt der Region in die Russische Föderation loyal, aber reserviert quittiert. Sie waren zuvor nicht gefragt worden, wofür es aus Moskau zwei Begründungen gab: Man wollte Durchstechereien vermeiden und nicht als Allianz in Erscheinung treten, dann hätten EU-Sanktionen die Partner ebenfalls ereilen können. Zu entkräften ist das nicht, die Präsidenten Lukaschenko und Nasarbajew werden in Kiew als Parlamentäre anerkannt. Wie anders wäre am 6. September 2014 in Minsk eine Waffenruhe für die Ostukraine vereinbart worden, und Astana als Gastgeber eines Vierer-Gipfels zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine im Gespräch?
Sollten EU und EAWU tatsächlich zu kooperativer Koexistenz finden, wäre zu bedenken, was sie bei Herkunft und Vita trennt. Die eurasische Assoziation verführt zum Vergleich mit der Sowjetunion, die als Wirtschaftsverbund mehr war als die Summe der 15 Sowjetrepubliken. Für die EAWU ist diese historische Wahrheit Segen und Fluch zugleich – der ökonomischen Synergien und des imperialen Verdachts wegen.
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