Frieden ohne Besatzer

Afghanistan US-Außenminister Blinken will den politischen Flurschaden eines Truppenabzugs in Grenzen halten
Ausgabe 13/2021
US-Truppen im Mohnfeld, bald ein Bild der Vergangenheit
US-Truppen im Mohnfeld, bald ein Bild der Vergangenheit

Foto: Bay Ismoyo/AFP/Getty Images

Wer geglaubt hatte, Antony Blinken würde bei seinem ersten Auftritt vor den NATO-Außenministern die Verbündeten dazu vergattern, in Afghanistan durchzuhalten, sah sich getäuscht. Stattdessen wählte er eine eher vorsichtige Rhetorik und verzichtete auf jede Kampfansage an die Taliban. Mit deren politischer Führung wie der Regierung in Kabul soll ausgelotet werden, ob und wie die USA über den 1. Mai hinaus militärisch präsent bleiben. Präsident Joe Biden ließ dazu in einem Interview mit ABC-News durchblicken, es werde sich bei einer Verschiebung um eine „nicht sehr lange“ Frist handeln. Woraus zu schließen ist, dass der vor gut einem Jahr in Doha (Katar) zwischen Amerikanern und Taliban besiegelte Vertrag über den kompletten Ausstieg aller externen Militärverbände nicht – wie es zunächst schien – als lästiges Relikt der Trump-Jahre entsorgt, sondern in Maßen respektiert wird.

Die US-Regierung will und kann nicht darüber hinweggehen. Wer die Übereinkunft kurzerhand widerruft, brüskiert die Taliban mit womöglich schwerwiegenden Folgen. Schließlich haben diese seither die Selbstverpflichtung eingehalten, keine US- oder anderen NATO-Kontingente mehr anzugreifen (die Afghanische Nationalarmee freilich schon). Wollten die USA das Abkommen einseitig kündigen, würden sie sich erneut in einen verlorenen, unpopulären und bis zuletzt opferreichen Krieg schicken. Und die ergeben ausharrenden NATO-Partner Deutschland (derzeit mit 1.300 Soldaten), Italien (895), Großbritannien (750), Rumänien (620), Türkei (600), Polen (290), Portugal (170) und Niederlande (160) gleich mit.

Parallelen zum Vietnamkrieg

Wie nicht anders zu erwarten, lehnen die Taliban auch einen – nicht „sehr lange“ – aufgeschobenen Rückzug ab. Zumal Verteidigungsminister Lloyd Austin bereits zu verstehen gab, etwa tausend Mann als Anti-Terroreinheit auf jeden Fall zurücklassen zu wollen. Die USA hätten eine „Sicherheitsverantwortung“ und wollten die strategische Partnerschaft mit Afghanistan erhalten, sagte er dem Korrespondenten der Washington Post während seines Kabul-Besuchs am 21. März. Man wolle „ein verantwortungsvolles Ende dieses Konflikts und den Übergang zu etwas Neuem“.

Nur was sollte daran neu sein, Spezialkräfte vor Ort in Reserve zu halten, die eingreifen, falls die Regierung in Kabul vor dem Fall steht und evakuiert werden muss? Ein vergleichbares Räumkommando hat im April 1975 dafür gesorgt, die letzten Mitarbeiter der US-Botschaft in Südvietnam auszufliegen, als die nordvietnamesische Armee vor den Toren der Hauptstadt Saigon stand. Die Taliban dürften einer solchen Nachhut, die gegebenenfalls den Vorwand für einen wieder hochgefahrenen US-Militäreinsatz liefert, eine Absage erteilen. Allerdings wird es nicht unerheblich sein, ob man sie vor vollendete Tatsachen stellt oder nicht.

Wer plötzlich einen globalen Lösungsansatz verfolgt wie Minister Blinken, bleibt auf den Goodwill aller afghanischen Konfliktparteien angewiesen. Das gilt besonders für eine höchst operative Guerilla mit fast landesweitem Aktionsradius. Die Taliban entscheiden ebenso über Frieden und Krieg wie die USA mit ihrem Schwanken zwischen Gehen und Bleiben.

Was also schwebt Antony Blinken vor? Grob gesagt eine Verständigung in drei Phasen, die es erlaubt, eine Befriedung Afghanistans mit internationalen Garantien zu versehen. Gedacht ist zunächst an eine Konferenz der Außenminister Russlands, Chinas, Indiens, Pakistans, des Irans und der USA mit den Vereinten Nationen, der afghanischen Regierung und den Taliban in Istanbul, um vorhandene Vorstellungen abzugleichen. Der Austausch soll klären, ob innere Versöhnung und nationale Reintegration erreichbar sind. Wie belastbar müssen sie sein, um die üblichen Rückschläge zu vermeiden? In mehr als vier Jahrzehnten Bürgerkrieg und Besatzung gehörte der stete Rückfall in Anarchie und Chaos zum Standard. Für einen zweiten Schritt wäre Moskau als Konferenzort ausersehen, um im gleichen Kreis Entscheidungen zu fällen. Erst danach sollten, so Blinken, die afghanischen Parteien – wieder in Istanbul, nicht wie bisher in Doha – unter sich aushandeln, wie die Macht zu teilen ist.

Bisher bleibt offen, ob die USA und die anderen Truppensteller am Hindukusch bleiben, bis ein solcher Friedensprozess abgeschlossen ist. Es ist davon auszugehen, dass die Taliban ein Junktim der Art – erst erfolgreich verhandeln, dann abziehen – als Zeitspiel verwerfen. Sie werden selbst dann nicht umzustimmen sein, wenn die Biden-Administration Wirtschaftshilfen in Aussicht stellt und einen Verzicht auf Wirtschaftssanktionen garantiert – unabhängig davon, wer in Kabul regiert.

Das Land von Fremdbestimmung zu befreien, allein darin besteht für die Taliban der tiefere Sinn ihres Versuchs, mit einer verfeindeten Macht überhaupt ein Agreement zu suchen. Sie tun es mutmaßlich nicht, um als gereifte Diplomaten aufzutreten, sondern weil ihnen die Diplomatie nützlich sein kann, ihre Stärke auszuspielen. Was wiederum viel damit zu tun hat, dass in den USA der Zwang zum Abschied aus Afghanistan um einiges wirkmächtiger ist als der bloße Wunsch, das Desaster hinter sich zu lassen.

Senator Dick Durbin, Vizefraktionschef der Demokraten im US-Kongress, meinte im CNN-Interview: „Vor 20 Jahren stimmte ich gegen eine Invasion des Irak, aber unterstützte die Schritte gegen Afghanistan. Damals hieß es: ‚Dort sitzen die Leute, die für den 11. September verantwortlich sind.‘ Daher glaubte ich, wir müssten dort eingreifen, und ahnte nicht, dass ich für den längsten Krieg in der US-Geschichte stimmte. Wir sollten jetzt eine möglichst stabile Lage hinterlassen. Aber wenn es darum geht, ein weiteres Jahrzehnt in Afghanistan zu stehen, bin ich dagegen.“

Iran müsste mitspielen

Bisher bleibt es der Spekulation überlassen, ob die von Antony Blinken erwogenen Teilnehmer eines neuen Verhandlungsformats ausnahmslos in Betracht kommen. Zwar dürften allein Russland und der Iran den Unruheherd Afghanistan auf Dauer eindämmen wollen. Doch werden sie fragen, warum die USA der Schirmherr sein müssen. Weil sie als militärischer Verlierer, aber politischer Gewinner den Hindukusch verlassen wollen?

Schließlich, wie werden sich Indien und Pakistan verhalten, die als regionale Gegenspieler seit jeher einer konträren Afghanistan-Agenda folgen? Und kann es die Biden-Regierung überhaupt innenpolitisch verkraften, einen iranischen Außenminister als legitimen diplomatischen Partner einzubauen? Welchen Vorteil das hätte, liegt auf der Hand. Von theologischer Verwandtschaft des Iran mit den Taliban kann wegen deren sunnitischer Ausrichtung kaum die Rede sein. Es gab Zeiten der erklärten Feindschaft, als die Gottesschüler im September 1996 in großen Teilen Afghanistans die Herrschaft übernahmen und zu ethnisch-religiösen Säuberungen ausholten. Davon betroffen war besonders die schiitische Minderheit der Hazara, mit einem Bevölkerungsanteil von 15 Prozent eine den Schiiten im Iran nahestehende Gemeinschaft.

Die Führung in Teheran exponierte sich daraufhin in der gegen die Taliban gerichteten Nordallianz und setzte so auf eine Machtalternative, wie sie auch von den USA bei ihrer Intervention Anfang Oktober 2001 bevorzugt wurde. Erhalten geblieben ist bis heute das übergreifende Interesse in Washington wie Teheran, eine Alleinherrschaft der Taliban zu verhindern, auch wenn für den Iran ein vollständiger Abzug sämtlicher fremder Truppen aus Afghanistan Priorität genießt. Bei einer 950 Kilometer langen gemeinsamen Grenze und Luftstützpunkten wie Shindand in der afghanischen Grenzprovinz Herat scheint das nachvollziehbar. Die USA würden mit ihrer Präsenz in Afghanistan auch an antiiranischer Drohkulisse verlieren.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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