Es gibt in der internationalen Diplomatie den Begriff des „eingefrorenen Konflikts“. Dabei finden sich die Beteiligten durch ein häufig nonverbales Agreement bereit, einen vorübergehenden Status quo als Modus vivendi anzuerkennen, ohne groß daran zu rütteln. Dies ist der Fall bei den von Georgien abgefallenen Kaukasusrepubliken Südossetien und Abchasien. Dies schien gegeben zu sein beim Streitfall im Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, erwies sich dann aber als Täuschung.
Keine Lobby
Davon beim Palästina-Konflikt auszugehen, hat sich immer schon als illusionär und auf fatale Weise verfehlt erwiesen. Dass in diesen Stunden wahrscheinlich der vierte Gaza-Krieg seit 2008 ausgebrochen ist, lässt daran nicht den geringsten Zweifel. Und doch war in den letzten Jahren die Absicht etwa der USA oder der EU erkennbar, den Konflikt um die Souveränität und ein staatliches Existenzrecht der Palästinenser ebenfalls „einzufrieren“. Durch Passivität, stillschweigende Akzeptanz, aber auch offene Parteinahme wurde eine israelische Besatzungspolitik hingenommen, die darauf bedacht war, vollendete Tatsachen zu schaffen, die unumkehrbar sein sollten. Den Palästinensern ging zusehends mehr von dem verloren, was für den eigenen Staat unverzichtbar war. Im November 2017 erklärte Präsident Trump die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland für völkerrechtskonform. Nur wenige Tage später hieß es aus Washington, dass man Jerusalem in Gänze als Hauptstadt Israels anerkenne. Entsprechend wurde damit begonnen, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Präsident Biden hat daran bisher nichts korrigiert, allein die Rücksicht auf die Pro-Israel-Communities bei Republikanern wie Demokraten dürfte ihn daran hindern.
Mögliche Annexion
Die Palästinenser müssen seit dem Scheitern des Oslo-Prozesses (1993/94) erfahren, zwar das Völkerrecht auf ihrer Seite, international aber keine Lobby zu haben, die sie vor der Perspektive eines halbkolonisierten, von einer Besatzungsmacht in Schach gehaltenen, zweitklassigen Volkes bewahrt. Seit 2019 hat das u.a. zur Konsequenz, ohnmächtig darauf warten zu müssen, dass nun auch Teile der Westbank annektiert werden, was bisher lediglich aus zwei Gründen unterblieb: der Abwahl Donald Trumps und der Instabilität israelischer Regierungen, die aus keiner von vier Wahlen innerhalb von zwei Jahren ein klares Mandat für sich verbuchen konnten. Und deren einzige Konstante darin besteht, dass sich Premier Netanjahu mit soviel Macht halten kann, dass er nun nach den Interventionen von 2008/09, 2012 und 2014 zum nächsten Gaza-Feldzug antritt, der was sein wird? Ein Blutbad auf beiden Seiten? Ein Massensterben Tausender Palästinenser, darunter viele Kinder, wie bei der Operation „Starker Fels“ vor sieben Jahren?
Wie weit die Entrechtung der Palästinenser im Westjordanland mittlerweile fortgeschritten ist, war eindrucksvoll zu erfahren, als in den letzten Tagen sechs palästinensische Familien aus dem Viertel Scheich Dscharrah in Ostjerusalem aus ihren Wohnungen ausgewiesen werden sollten. Sie wurden von Israelis beansprucht. Ein Anlass für die jetzige Eskalation wie auch die temporäre Abriegelung der Al-Aqsa-Moschee ausgerechnet während des Ramadan.
Recht auf Selbstverteidigung
Die deutsche Außenpolitik hat weitgehend widerspruchslos hingenommen, was Israel an völkerrechtswidriger Politik betreibt, vom täglichen Siedlungsbau bis zu den ebenfalls täglichen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten. Wie sehr hätte das unter anderen Vorzeichen und andernorts für eine resolute Sanktionspolitik gesorgt. Wenn Außenminister Maas die Hamas für Raketenangriffe und die dabei verursachten zivilen Opfer verurteilt, fehlt das adäquate Verdikt gegenüber Israel. Bei grünen Spitzenpolitikern übrigens auch. Den Palästinensern kann das Recht auf Selbstverteidigung so wenig bestritten werden wie den Israelis, erst recht nicht unter den Bedingungen einer Okkupation. Dass die Hamas daraus das Recht für einen asymmetrischen Krieg ableitet, den sie vor allem gegen israelische Zivilisten führt, wird verheerende Folgen haben, für die eigenen Leute im Gazastreifen ganz besonders.
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