Sicher muss man nicht gleich in hysterischen Alarmismus verfallen, hält man sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum nicht nur nach außen, sondern auch im Inneren erweiterten Aktionsradius der Bundeswehr vor Augen. Dennoch, was das höchste Gremium deutscher Rechtsprechung beschlossen hat, irritiert und befremdet zugleich. Es könnte eine bisher geltende Rechtslage total umkehren – mit durchaus bestürzenden Folgen. Ob die übermorgen oder in zehn Jahren eintreten, ist irrelevant.
Breites Repertoire
Nimmt man nur die regelmäßigen Lageanalysen des Bundesinnenministeriums und anderer Organe, dann ist die terroristische Bedrohung für die Bundesrepublik Deutschland permanent gegeben und permanent hoch. Es kann also theoretisch sehr schnell zu jener „Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes“ kommen, die laut BVG-Votum vom 17. August ein militärisches Eingreifen der Streitkräfte erfordert – und legitimiert. Was hätten die dann zu tun? Es wäre mit Operationen nicht zuletzt im städtischen Raum zu rechnen – das ergibt sich allein aus einigen Anschlagszielen in Europa während der vergangenen Jahre. (Man denke an das Attentat auf den Zugverkehr in den Vororten von Madrid im März 2004 oder an den Terror in der City von London im Juli 2005). Es sind überdies Lufteinsätze denkbar, um bei mutmaßlich entführten Maschinen Notlandungen zu erzwingen. Auch ein Grenzregime, bei dem der Vertrag von Schengen zur Marginalie schrumpft, kann geboten erscheinen, um dem Mahlstrom des Terror zu entkommen. All das dürfte für die Zivilbevölkerung unter Umständen größere Gefahren heraufbeschwören als real vorhanden sind.
Folgeentscheidung unverzichtbar
Die neueste Rechtssprechung zur Terror- und Gefahrenabwehr im Inneren kalkuliert das offenbar ein. Noch 2006 hatten es die Verfassungsrichter abgelehnt, dem so genannten Luftsicherheitsgesetz des sozialdemokratischen Innenministers Otto Schily ihren Segen zu geben. Sie folgten nicht der Auffassung, nach dem Prinzip „Gefahr im Verzug“ dürften in vermeintlich terroristischer Absicht gekaperte Flugzeuge einfach vom Himmel geholt werden. Es gab im damaligen Urteil den klaren Verweis auf Artikel 35 GG, nach dem es dem Bund ausdrücklich untersagt sei, „Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen“. Die jetzige Revision dieser Lesart von Verfassungstreue führt dazu, dass die strikte Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwischen Militär und Polizei aufgehoben wird. Gleichzeitig öffnet sich ein recht großzügig bemessener Spielraum für Interpretationen, wird danach gefragt: Wann eigentlich tritt eine „Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes“ ein und wann ist sie vorbei. Einen Richtwert wenigstens wollten die Karlsruher Juroren nicht schuldig bleiben, indem sie formulierten, schwere Schäden müssten „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze eintreten“. Nur sollte es auch dafür Kriterien geben. Wer legt sie fest und wer entscheidet darüber, wann sie erfüllt sind. Und wer entscheidet, was dann geschieht – nur die Exekutive? Oder wird auch das Parlament einbezogen?
Theoretisch kann „die Politik“ den BVG-Beschluss nutzen, um die bewaffneten Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr extensiv auszulegen. Hier erscheint zumindest eine Folgeentscheidung des Verfassungsgerichts unverzichtbar.
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