Gefangen in Afghanistan

NATO Die Allianz stemmt sich gegen das Scheitern in einem asymmetrischen Krieg
Ausgabe 50/2014
Nichts kann die NATO derzeit mehr erschüttern, als das Land an Aufständische zu verlieren
Nichts kann die NATO derzeit mehr erschüttern, als das Land an Aufständische zu verlieren

Foto: Scott Olson/Getty Images

Auf kuschlige Verklärung bedacht, hat einst der Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) nach einem Afghanistan-Trip den Eindruck kolportiert: „Wer heute an den Hindukusch kommt, der sieht, dass die Kinder wieder Drachen steigen lassen.“

Derartigem Realitätsverzicht oder -verlust will sich die NATO um ihrer selbst willen nicht hingeben. Sie lässt lieber die eigenen Drachen steigen. Will heißen, sie bleibt mit der Mission Resolute Support über das Jahr 2014 hinaus bemüht, in Afghanistan so viel Schlagkraft zu erhalten, dass kein Machtvakuum entsteht. Unverkennbar steht dahinter die Angst, es könnte sich auf dessen Territorium wiederholen, was im Irak nach dem Abzug des US-Besatzungskorps Ende 2011 geschah. Der Regierung von Präsident Aschraf Ghani soll kein ähnliches Schicksal beschieden sein wie dem irakischen Premier Nuri al-Maliki, der über eine zwar hochmoderne, aber alles andere als hochmotivierte Armee gestolpert ist. Anfang Juni 2014 rüsteten die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) bekanntlich zum Sturm auf Bagdad. Nur dank externer Waffenhilfe konnte ein solcher Angriff verhindert werden.

Insofern erscheint die Frage keinesfalls müßig: Wann stehen die Taliban oder andere Insurgenten wieder vor Kabul wie im September 1996? Seinerzeit wurde die afghanische Kapitale im Handstreich erobert – es war der entscheidende Triumph, bevor die Gottesfürchtigen um Mullah Mohammed Omar ihr Kalifat begründeten, das immerhin bis zur US-Intervention nach 9/11 im Oktober 2001 Bestand haben sollte. Es lag nicht falsch, wer den Durchmarsch der Taliban bis zur Staatsmacht als Spätfolge des Abzugs der Sowjetarmee Anfang 1989 deutete. Dieser Ausstieg ohne Restlaufzeit hinterließ ein Land, das erbitterter Selbstzerfleischung zwischen ethnischen Clans, Warlords wie Milizen verfiel und statt einer potenten Regierung in Kabul Residenten vorwies, die sich Präsident und Premierminister nannten, ohne dergleichen zu sein. Man muss die Neuauflage solcher Failed-State-Szenarien nicht herbei fantasieren. Die scheidenden Besatzungsautoritäten halten sie augenscheinlich selbst für denkbar. Warum sonst gibt es ab 1. Januar 2015 das Unternehmen Resolute Support mit Führungszentren in Kabul und Bagram, Militärbasen in Masar-e Scharif, Herat, Kandahar und Dschalalabad?

Afghanistans labile Nachkriegsordnung verlangt nach militärischer Nachsorge und das in Größenordnungen. Gerade haben die USA ihren Anteil an den dort künftig stationierten Kontingenten um 1.000 Soldaten aufgestockt, sodass mit einer Gesamtstärke von mehr als 13.000 Mann zu rechnen ist. So viel Beratung kann die afghanische Nationalarmee kaum brauchen, so viele bewaffneten Beistand schon, wenn nicht mehr. Resolute Support läuft auf ein robustes Peace Enforcement hinaus, wenn das die Situation verlangt. „Im Bedarfsfall“ seien Kampfeinsätze nicht auszuschließen, wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Bundestagsdebatte am 5. Dezember zum Resolute-Support-Mandat für 850 Bundeswehrsoldaten eingeräumt hat.

Deutschland bleibt gefangen in Afghanistan und in seinem Bündnisgehege mit den USA. Die Amerikaner verstehen sich weiter als Taktgeber für die Afghanistan-Politik der NATO und tun dies in der Gewissheit: Nichts kann die westliche Allianz derzeit mehr erschüttern, als Afghanistan an Aufständische zu verlieren, denen es schon reicht, das Land in einen auf Dauer unregierbaren Zustand zu versetzen. Dann wäre man nach 13 Jahren Besatzung nicht nur blamiert. Man müsste verkraften, an einem Krieg des 21. Jahrhunderts gescheitert zu sein, dessen Wesen in einer asymmetrischen Konfrontation mit nichtstaatlichen Kombattanten besteht. Angesichts des Konflikttableaus im Irak und Jemen, in Syrien, Mali, Libyen oder Somalia lässt sich das kaum als bedauerlicher Betriebsunfall abhaken. Es wäre ein strategischer GAU.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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