Gefangen in "Toul Sleng"

Lagerordnung Den Gefangenen war es verboten, über den Sinn der kambodschanischen Revolution zu diskutieren

"Stärkt den Geist der Revolution! Seid wachsam gegen die Strategie und Taktik des Feindes!" - Ein Transparent mit dieser Losung hängt über dem Tor von "Toul Sleng", als vietnamesische Soldaten am Mittag des 7. Januar 1979 dieses Areal im Stadtteil Tuol Svay Prey ziemlich im Zentrum von Phnom Penh erreichen. Im Camp hinter der Losung ist niemand mehr wachsam, die Wächter haben sich abgesetzt. Offenbar in größter Eile. Es muss an Zeit oder auch am Willen gefehlt haben, Spuren der letzten Verhöre zu beseitigen, die hier noch bis zum Schluss stattgefunden haben.

Die Vietnamesen teilen sich auf. Einige nähern sich den Küchenräumen, die mit Reissäcken verbarrikadiert sind, andere staunen über ein Atelier, in dem haufenweise Büsten Pol Pots gelagert sind, dazu Gemälde mit dem gleichen Kopf, diesmal überlebensgroß. Eine Gruppe durchstreift den "Block der Sanitäter", wie dem Schild über einem Pavillon zu entnehmen ist. Plötzlich sind Schreie zu hören, einige Soldaten stürzen entsetzt zurück. Andere drängen nach, wollen in die Innenräume des Sanitätsblocks und sehen nun auch, dass dort mehrere Leichen liegen. Besser gesagt die Reste von sieben Gefangenen, die mit Eisenschellen an Bettgestellen festgekettet und bis auf eine Ausnahme enthauptet sind.

Um wen es sich handelt, kann später festgestellt werden, denn die Bewacher und Vernehmer von "S 21", wie "Tuol Sleng" im Demokratischen Kampuchea intern heißt, haben nicht nur viel Reis, sondern auch die Häftlingskartei zurückgelassen, dazu das so genannte "Hauptbuch" des Lagers, in dem akribisch genau die Zu- und Abgänge verzeichnet sind. In einer Randspalte gibt es Notizen, die der näheren Erläuterung eines "Falles" dienen.

In ihrem 1979/80 gedrehten Film Die Angkar haben die Dokumentaristen Walter Heynowski und Gerhard Scheumann aus diesem "Hauptbuch" zitiert, um das Schicksal der Toten von Toul Sleng aus der Anonymität zu reißen. In den Eintragungen vom 29. September 1977 heißt es unter anderem: "Durch Krankheit sind zwei Personen verstorben: Yi Lot, Parteisekretär eines Regiments der Armee 920, an zu hohem Blutdruck; Hi Sa Ri, stellvertretender Leiter des Brückenbaus in der Nordwest-Region, an Durchfall. Beide wurden zehn Tage lang intensiv behandelt."

Oder am 30. März 1977: "Yaing Port, Panzermechaniker bei der Division 377, ist durch Auszehrung verstorben. Er wurde einen Tag behandelt; Som Sey La, Mitarbeiter des Büros Nr. 5 im Außenministerium, verstorben an Auszehrung und Durchfall. Er wurde sieben Tage intensiv behandelt; Len Mang, Textilarbeiter in der Provinz Battambang, ist seinen Wunden erlegen. Er wurde einen Tag behandelt. Bour Hoeung, Deserteur aus der Südwest-Region, ist an Durchfall verstorben. Er wurde eine Stunde behandelt; Sem Noeurm, Armeearzt, verstorben, nachdem er sich mit dem Hemd an der Zellenwand aufgehängt hatte ..."

Wer in Toul Sleng einsaß, dem wurde gleich am Anfang die "Sicherheitsordnung" (eine Art Lagerordnung) verlesen, die den Verlauf eines Verhörs regelte - ein Auszug: "Auf alles, was du gefragt wirst, hast du zu antworten. Du darfst keine Antwort verweigern. Es ist dir verboten, dich dumm zu stellen, nachdem du die Kühnheit hattest, dich gegen die Revolution aufzulehnen. Es ist dir verboten über den Sinn der Revolution zu diskutieren ... "

Auch an praktischen Hinweisen für die oft noch minderjährigen Vernehmer fehlt es im "Hauptbuch von S 21" nicht: "Beachte, an den Händen gefesselte Leichen tauchen aus dem Wasser so auf, daß die Gesichter nach oben zeigen. Die Leichen, die nicht gefesselt wurden, tauchen aber so auf, daß die Gesichter nach unten zeigen."

Alle inzwischen verfügbaren Dokumente lassen keinen Zweifel, dass von den mehr als 20.000 Gefangenen, die es zwischen Ende 1975 und Januar 1979 in Tuol Sleng gab, nicht mehr als sieben überlebt haben.


der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden