Gefühlseuropäer Gauck

Berliner Rede Der Bundespräsident hat von einer "gemeinsame Identität" Europas gesprochen, aber fast alles ausgeklammert, was diese Identität seit Ausbruch der Eurokrise beschädigt
Gefühlseuropäer Gauck

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Warum bloß hat sich Bundespräsident Gauck für das Thema Europa entschieden, um als Großprediger der Nation in Stellung zu gehen? Sicher, es liegt nahe, das Phänomen Europa zu beschwören und mit salbungsvollen Worten zu segnen. Aber dieser Götzendienst ist politisch unfruchtbar, wenn er nicht zur Kenntnis nimmt – und diese Erkenntnis an den Anfang eines solchen Auftritts setzt: Die Europäische Union existiert heute vorzugsweise als europäische Wettbewerbsgesellschaft. Wie bei jedem Konkurrenzunternehmen dieser Art gibt es Sieger und Verlierer. Ein derartiger Zustand treibt die Staaten der EU – besonders der Eurozone – mehr auseinander als zueinander.

Ob man das bedauert oder gutheißt, ist zunächst einmal egal. Es ändert nichts an der Tatsache, dass es innerhalb dieses Staatenbundes inzwischen Partner erster, zweiter und dritter Klasse gibt. Und sich daran auf absehbare Zeit kaum etwas ändern wird. Wäre Gauck kein Gefühls-, sondern ein Kopfeuropäer, hätte er in seiner Rede unüberhörbar die Fragen gestellt: Weshalb ist das so? Wer trägt dafür die Verantwortung? Lässt es sich ändern?

Loyalitätsgebot gegenüber Merkel

Es sei dem Bundespräsidenten zugestanden, dass er wenigstens den zaghaften Versuch unternahm, dem realen Europa den Puls zu fühlen. Es habe eine folgenschwere Einführung einer gemeinsamen Währung gegeben, deren Steuerung einige Konstruktionsfehler aufweise, teilte er mit. Nur durch welches Krisenmanagement werden die seit gut zwei Jahren korrigiert? Spätestens an dieser Stelle holten Gauck der Opportunismus seines politischen Daseins und das Loyalitätsgebot gegenüber der Kanzlerin ein, die seit Ausbruch der Eurokrise dem Credo folgt: Es kommt darauf an, Schaden von Deutschland abzuwenden und sich nicht daran zu stören, wie weit das anderen europäischen Partner schadet. Hätte Gauck einen bemerkenswerten Auftritt hinlegen wollen, über den man auch in vier Monaten noch spricht, hätte er Angela Merkel an dieser Stelle fragen müssen, inwieweit sie damit eigentlich ihrer Verantwortung für Europa gerecht wird. Gauck warnt zwar, Deutschland dürfe Europa nicht Angst machen, und ein deutsches Europa sei nicht wünschenswert. Aber das sind Floskeln – es gibt ihn nun einmal, den maßregelnden und hierarchischen Umgang mit Griechenland, Portugal, Italien und anderen. Was soll das anderes bewirken, als Ressentiment auszulösen und einen Keil durch Europa zu treiben, wenn sich die Konsequenzen für etliche Euro-Staaten in sozialer Prekarisierung spiegeln, wie das momentan der Fall ist. Mit der Floskel „mehr Europa wagen“, wenn immer mehr Europa verloren geht, ist es wohl nicht getan.

"Ruck" durch Europa

Gauck verlangt ein Gleichmaß von „Takt und Tiefe der Integration“. Vor gut zehn Jahren hieß das noch: "Erweiterung und Vertiefung". In der Zwischenzeit ist 2005 der Versuch gescheitert, den EU-Staaten eine gemeinsame Europäische Verfassung zu geben. Dass es heute für jeden ernstzunehmenden Politiker abwegig und absurd erscheint, ein solches Projekt zu reanimieren, zeigt eindrucksvoll, in welchen Zustand Europa geraten ist. Gedanken an die „Finalität der Europäischen Integration“ verbieten sich. Dabei hatte noch im Mai 2000 der damalige Außenminister Joschka Fischer seine in der Berliner Humboldt-Universität gehaltene Europa-Rede mit dieser Überschrift versehen. Deren erster Teil lautete übrigens : „Vom Staatenverbund zur Föderation“. Das wurde vor gut 13 Jahren unter anderem so verstanden, dass damit der Übergang vom europäischen Staatenbund zum europäischen Bundesstaat gemeint sein könnte. Wer heute an eine solche Fusion denkt, müsste erst einmal einen europäischen Länderfinanzausgleich regeln, um das ökonomische Gefälle zwischen den Teilstaaten einer solchen Föderation zu überwinden. Ein aussichtsloses Unterfangen, hält man sich nur vor Augen, wie vehement Deutschland seit Ausbruch der Eurokrise Eurobonds verwirft, die eben diesen Effekt vorweisen könnten.

Joachim Gauck hatte bereits 20 Minuten geredet, als sich im Schluss Bellevue zum ersten Mal verhaltener Beifall regte. Der Vortragende hatte gerade die Briten inständig gebeten, doch bitteschön der EU treu und gewogen zu bleiben. Warum? Weil ein „Ruck“ durch Europa gehen muss und wird, hätte Gauck sagen können, um sich in selbstironischer Weise wenigstens verbal, wenn schon nicht gedanklich einem „Berliner Redner“ vergangener Jahre anzunähern. Dem einstigen Bundespräsidenten Roman Herzog.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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