Es ist keine Entscheidung im britischen Unterhaus erinnerlich, bei der eine britische Regierung eine derart krachende Niederlage hinnehmen musste. Der Entzug von Vertrauen in Theresa May als Premierministerin ist eklatant und schwerwiegend, aber zugleich weder fair noch gerecht. Sie wurde zum Sündenbock – stigmatisiert als Inkarnation einer Kapitulation vor den harten Positionen der EU.
Aber wie sollte es anders sein? Brüssel hat nun einmal Kompromisse dort verweigert, wo diese aus EU-Sicht auf unzulässige Konzessionen hinausliefen. Wenn sich die Staatenunion als Rechtsgemeinschaft empfindet, die dem Credo folgt, gleiche Rechte und Pflichten für alle, dann kann es für die Briten kein Sonderrecht beim Austritt geben. Das heißt, die weiterhin durchlässige und wenn möglich unsichtbare Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland hat zur Voraussetzung, dass Großbritannien in der Zollunion bleibt. Dies kann noch Jahre andauern, da ein Handelsvertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und der Rest-EU nicht von heute auf morgen ausgehandelt sein dürfte. Es gibt zu dieser alles andere als verdeckten Mitgliedschaft trotz Brexit keine Alternative, es sei denn die des Ausstiegs gänzlich ohne Vertrag.
Es wäre nun ein Frage des politischen Anstands und der geltenden Bräuche, würde Theresa May abtreten und den Weg für Neuwahlen freimachen. Aber jeder Nachfolger wäre dem gleichen Dilemma ausgesetzt: Die mit dem Brexit erwünschte Rückkehr zu voller politischer Selbstbestimmung zementiert eine harte Grenze zwischen Nord und Süd auf der irischen Insel. Wer das will, der gefährdet und unterminiert das Karfreitagsabkommen, der spielt mit dem inneren Frieden. Und der fordert auch die EU heraus, die es der Loyalität zu ihrem Mitglied Irland schuldig ist, das Karfreitagsabkommen von 1998 in Gänze zu verteidigen.
Lebenswelt voller Zumutungen
Zu Beginn dieser entscheidenden Woche für Großbritannien und die EU hatte Ex-Außenminister Boris Johnson in einer Kolumne noch einmal versichert, dass ein No-Deal-Brexit die beste aller denkbaren Lösungen sei. Für manchen Brexiteer scheint es Verrat an der Nation zu sein, wird nicht der härteste aller harten Abgänge aus der EU angesteuert. Patriotismus schlägt in Nationalismus, Nationalismus in Chauvinismus um. Es herrscht einen Bekenntnisdrang, der an notorische Reflexe erinnert. Die britische Politik sorgt für viel hysterische Spiegelfechterei, die einerseits von Zeitgeist kündet, zugleich aber auch dem vereinten Europa ein vielsagendes Zeugnis austellt.
Anders als bei Goethes Mephistopheles wirkt die Europäische Union in den Augen vieler Europäer längst als ein Teil von jener Kraft, die vorgibt, stets das Gute zu wollen, aber – anders als versprochen – viel Böses schafft. Oder beidem zugeneigt ist. Die EU ist Quelle von Integration und Desintegration, verstiegenem Hass und ebensolcher, teils blinder Zuneigung, Anerkennung und Verachtung, Nationalismus und Internationalismus.
Derzeit ist sie nicht zuletzt Sozialpatrioten im Osten und Westen des Kontinents als neoliberale Zumutung suspekt. Dass eine Staatenassoziation, die einmal dem Ost-West-Antagonismus zu verdanken war, inzwischen derart gegensätzlich antizipiert wird, hat Gründe. Und die waren auch für die Brexit-Mehrheit in Großbritannien nicht ohne Belang.
Die EU bleibt überzeugende Antworten auf Phänomene schuldig, die in allen Mitgliedsstaaten als existenzielle Herausforderung wahrgenommen werden – die Folgen der Globalisierung und die „Flüchtlingskrise“ etwa, den unzureichenden Schutz gegen die nächste Finanzkrise, eine fortschreitende soziale Zerklüftung der Gesellschaften in Europa, die immer mehr Bürger als eine Lebenswelt voller Zumutungen bewältigen müssen. Auch eine Folge davon, dass die technokratischen Eliten in Brüssel sozialpsychologische Folgen getroffener Entscheidung übersehen, unterschätzen oder missachten. Was bedeutet es für Millionen Europäer, wenn die seit 2015 geltende Nullzinspolitik der EZB die private Altersvorsorge mindestens einer Generation zerstört?
Take back control
Vor dem britischen Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 lautete eine Parole der EU-Gegner: Wir wollen nicht, dass unsere Gesetze weiter in Brüssel beschlossen werden – „take back control“. Zwar hat sich das angesichts der absehbaren Ausstiegsszenarien als illusionär erwiesen, doch reflektierte dieser Slogan, dass auf politische Selbstbestimmung mehr Wert gelegt wird als auf die Vorteile von Binnenmarkt und Zollunion. Auch aus diesem Impuls heraus haben Mitte 2016 in Großbritannien gut 52 Prozent für eine Abkehr von der EU votiert. Wie dazu seit langem vorliegende Analysen beschreiben, sagten vornehmlich die wirtschaftlich weniger Erfolgreichen, die nicht genügend Ausgebildeten, die sozial konservativ Eingestellten, die ländliche Community: „Nein, es reicht.“
Wie würden sie sich entscheiden, sollte es ein zweites Plebiszit geben? Ein solches Votum wird derzeit viel zu sehr als Politikum gedeutet, während die damit heraufbeschworenen rechtlichen Fragen und nötigen gesetzgeberischen Akte fast völlig ignoriert werden. Wenn man dies als Hürden begreift, dann sind diese sehr hoch.
Kommentare 7
- was über die spezifika der politik im vereinigten königreich hinausgeht:
die gemenge-lage des vielfältigen staats-versagens,
das viele bedürftige und geschmälerte beklagen,
mit dem entgleiten der kontrolle durch die aktiven wähler.
die abschottung politischer instanzen gegen die konkreten bedürfnisse
der ignorierten, die als zumutung: wut erzeugt.
da nimmt dann das volk, der große lümmel,
den knüppel populismus in die hand und drischt blindlings
auf den pack-sack der etablierten polit-manager,
die sich den profit-managern eher dienst-lich-zugänglich erweisen.
- ob corbyn den ziel-konflikt der konservativen für die
labour party nutzen kann, indem er die regierung durch
mißtrauens-votum stürzt und neu-wahlen erzwingt,
ist eine sache.
sich von zwängen der EU zu befreien eine andere,
mit alternativen wegen.
- die britische "volks-befragung" war auch eine
manipulativ-populistische, die wirksame kontrolle/einsprüche
gegen das regierungs-handeln umgehen wollte.
sie war zudem dumm angelegt, weil sie die landes-teiligen resultate
nicht einkalkulierte.
Nur zur klarstellung: Die frage"Was bedeutet es für Millionen Europäer, wenn die seit 2015 geltende Nullzinspolitik der EZB die private Altersvorsorge mindestens einer Generation zerstört?" verrät nur allzu deutlich eine erstaunliche unkenntnis bzgl. des hauptverursachers der durchaus sinnvollen EZB-politik. Dadurch wird die EURO-zone letztlich stabilisiert und zusammengehalten. Die grösste gefahr für den zusammenhalt der EURO-Zone geht indessen von D-land aus, das mit seinem beharren auf austerität und wirtschaftlich fragwürdigen "Maastricht-Kriterien" die EURO-Zone an den rand einer deflation zwingt. Allein die lockere geldpolitik der EZB und das beharren auf einem zinsniveau von faktisch null vermag dem - einigermassen - entgegen zu wirken. Wer seine altersvorsorge auf zinsgewinne, also auf den finanzmarkt gründet, der ist ohnehin schlecht beraten. Allein das umlagesystem vermag die altersvorsorge tatsächlich zu sichern.
Zur lage in GB bleibt nur anzumerken, dass es noch spannend sein wird zu erleben, wie die hard-liner um Boris Johnson & Co. nach dem offensichtlich beabsichtigten sturz von May ohne neuwahlen (also ohne misstrauensvotum) nach ihrer machtergreifung mit dem Brexit umgehen werden... Aber erst kommt die MACHT und dann die politik; kurzsichtiger geht's nimmer.
Das derzeitige Drama in GB lässt sich mit den Konditionen rund um den EU-Ausstieg kaum noch erklären. Vielmehr erscheint es mir fast so, dass der Hardliner-Flügel der Konservativen mehr eine rechtsautoritäre Politikwende in GB selbst im Sinn hat und zu diesem Zweck (ähnlich wie Donald Trump) auf der Straße der innenpolitischen Zuspitzung, der Polarisierung und des Crashs unterwegs ist. Das mag vielleicht nicht für das Gros der Tories zutreffen – nicht einmal für alle Mitglieder des rechten Parteiflügels. Allerdings: Dass Johnson, Farange & Co. stramm unterwegs sind in Richtung einer bürgerkriegsähnlichen Zuspitzung, und die Brexit-Frage hierbei nichts anderes darstellt als eine lediglich instrumentell gehandhabte und via politischer Kaperfahrt in Geiselhaft genommene Thematik, kristallisiert sich in meinen Augen immer deutlicher heraus.
Sieht man die derzeitig ablaufende Entwicklung erst mal unter diesem Aspekt, ergibt der obstruktionsähnliche Kurs der konservativen Hardliner durchaus Sinn: Ein unregulierter Brexit wäre der absehbare Crash – mit allen negativen Begleiterscheinungen, die daran geknüpft sind: delirierende Börsen, Neuaufleben des Nordirland Konflikts, innenpolitische Unruhen, Stockungen und Chaos in allem, was mit Grenzverkehr zu tun hat. Frage: Welche politische Richtung würde von einer solchen Entwicklung am ehesten profitieren? Auch in Chile brauchte man zunächst Mittelstands-Streiks und Ähnliches, um den rechten Putsch dann vom Zaun zu brechen. Sieht man sich den krisengeladenen, gesellschaftlich abgerippten Zustand des United Kingdom derzeit an, sind die Unterschiede gar nicht mal so groß. Schließlich ist auch das neoliberale Modell à la Thatcher eine Ideologie des Unbedingten – ein Gesellschaftsmodell, dass schon per se auf gelegentliche Stahlbäder hin angelegt ist.
Zwei Szenarien gehen mir, wenn auch jetzt erst allmählich, auf: Zumindest eine bestimmte Fraktion will entweder die EU mit hinab ziehen oder so brutal hoch pokern, dass doch noch der beste Deal herauskommt. Letzteres würde sich die nicht unbegründete Angst vor allem in den westlichen EU-Ländern vor ersterem zunutze machen, auf dass Brüssel einknickt. Allerdings wäre das extrem spekulativ ... Andererseits darf man so etwas durchaus gerade von Typen wie Farage oder Johnson erwarten. Und wenn man auch gesehen hat, wie hämisch May sich im Unterhaus behandeln lassen durfte ...
Frau Theresa Mays Brexit-Deal ist gescheitert – ein chaotischer EU-Austritt wird immer wahrscheinlicher. Nun hört man, die Briten brauchen ein zweites Referendum und das fordert die Justizministerin und SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley auch. Nun begreife ich überhaupt nichts mehr – gewählt ist doch gewählt? Nur mal am Rande, bei der gleichen Sache, würde man da auch mit z.B. Griechenland so wohlwollend und verständnisvoll agieren? Komisch!
Nochmal zu der EZB-Passage im Kommentar, es geht hier nicht darum, dass die Nullzinspolitik den Euroraum stabilisiert, sondern um die Wahrnehmung dieser faktischen Enteignung von Sparern ect. durch die Betroffenen.
Es geht bei der EZB-Passage allein um die Wahrnehmung der Nullzinspolitik durch die Betroffenen.