Was passiert, wenn eine Demokratie wie die amerikanische an dem zu scheitern droht, was sie als ihre Kernkompetenz begreift, nämlich Wahlen zu veranstalten, diese vor Störungen zu schützen und den Siegern die gewonnene Regierungsmacht zu sichern? Ist sie dann tot? Schwer erschüttert auf jeden Fall. In den Augen ihrer Anhänger verliert sie unweigerlich an Vertrauen. Es läuft auf Schäden hinaus, die einer Kernschmelze gleichkommen.
In den USA hat die Demokratie den Kampf gegen den Kapitalismus schon lange verloren, genau genommen von Anfang an, nun auch gegen Rechtsradikale und Ultranationalisten, gegen die gewalttätige antirepublikanische Anmaßung und den Zerstörungswillen eines Präsidenten, der wie kein anderer die Verfassung zu schützen hätte und sie wie kein anderer demontiert hat? Washington am 6. Januar, der Sturm auf das Kapitol war ein signifikanter Exzess, dem andere vorausgingen und weitere folgen können. Von Tragik zu reden, wäre falsch. Eine innere Logik zu erkennen, angemessener. Weil sich bürgerliche Demokratie und neoliberaler Kapitalismus in den USA vorzüglich ergänzen, konnte jemand wie Donald Trump daraus Macht schöpfen. Er ist nicht die Inkarnation des Verwerflichen oder Bösen schlechthin, er hat die Spaltung der US-Gesellschaft, die sich seit der Kreditkrise vor reichlich zehn Jahren unablässig radikalisierte, nicht geschaffen, sondern benutzt. Diese Kausalität garantiert sein politisches Überleben.
Wer dem entgegenhält, inzwischen sei doch alles wieder in geordneten Bahnen und Joe Biden könne am 20. Januar wie geplant seine Präsidentschaft antreten, der übersieht, dass Washington in einen Ausnahmezustand versetzt wird, damit er den Amtseid ablegen kann. Die Demokratie schottet sich ab, um stattfinden zu können. Der Verweis auf die vermeintliche Rückkehr zur Normalität unterschätzt zudem die politische Ikonografie jüngster Vorgänge. Das Kapitol wurde gestürmt, um es zu verwüsten – um einem Ort der Symbolik die sakrale Würde zu nehmen und der Profanität zu unterwerfen. Das lässt sich aus dem kollektiven Gedächtnis so wenig tilgen wie die Erfahrung, dass es den Angreifern leichtfiel, zu erobern, was es zu entweihen galt.
Zum letzten Mal kam es 1814 zu vergleichbaren Szenen, als britische Truppen das Kapitol während des zweiten Unabhängigkeitskrieges (1812–1815) in Brand steckten, doch waren das die Eruptionen eines Waffengangs zwischen den USA und Großbritannien. Über 200 Jahre später wird ein politisches System vorgeführt, weil es nicht wahrhaben will, wie illusionär seine Großartigkeit und seine vermeintliche Unverwundbarkeit sind. Die destruktive Manie Trumps wurde nicht erst mit der beharrlichen Weigerung erkennbar, den Wahlausgang vom 3. November zu respektieren. Sie war für seine Amtszeit stets maßgebend – als Kampfansage gedacht, als solche präsent und virulent. Warum hat es sich als aussichtsloses Unterfangen erwiesen, dem wirksam entgegenzutreten?
Eine Systemoffenbarung?
Eine Amtsenthebung scheiterte 2019 an einer Mehrheit im US-Senat, sodass die nach dem 6. Januar plötzlich so inbrünstig beklagte „Zerstörung der Demokratie“ unter der Devise vorankam: Diese Zerstörung lassen wir nicht stören. Sie fand sich durch einen antidemokratischen Schutzwall bestens geschützt. Wie nennt man das? Systemversagen? Systemfehler? Oder besser: Systemoffenbarung?
Die USA sind damit Deutschland voraus. Aber nicht über Gebühr. Es gibt verwandte Vorgänge, die sich vom Sturm auf das Kapitol in der Dimension, aber nicht substanziell unterscheiden. Was sie vereint, ist der Umstand, dass staatliche und parlamentarische Autorität angegriffen werden kann, ohne dass ein von sich bedingungslos überzeugter, leidenschaftlicher Widerstand dem entgegensteht – nur ein merkwürdig verhaltenes „Vielleicht“.
Am 30. August 2020 haben während eines rechtsradikalen Aufmarschs in Berlin Hunderte von Demonstranten, ausgestattet mit verfassungsfeindlichen Standarten, die man stundenlang durch die Hauptstadt tragen konnte, ohne dass etwas passierte, die Treppe des Reichstages und damit des Parlamentsgebäudes besetzt. Die Polizei in Berlin, die ansonsten mit Hundertschaften anrückt, um besetzte Häuser zu räumen und privatkapitalistisches Eigentumsrecht durchzusetzen, glänzte durch Abwesenheit. Wie das Kapitol in Washington war der Reichstag in Berlin nicht ausreichend geschützt, obwohl absehbar war, was sich anbahnte.
Am 18. November lotsten AfD-Abgeordnete mehr als eine Handvoll Anhänger mit provokativer Absicht in die Lobby des Bundestages, damit sie dort Abgeordnete beschimpfen und bedrohen konnten, die dem ebenfalls ungeschützt ausgeliefert waren. Moralisierende Reaktionen im Empörer-Modus während einer aktuellen Stunde am Tag danach wirkten mau. Sie bleiben ein Zeichen von Hilflosigkeit, solange die für absichtsvolle Sabotage der Legislative zuständigen AfD-Abgeordneten weiter ungerührt und ungestört ihr Mandat auskosten können.
Schreckt die bürgerliche Demokratie vor der Anmaßung eines faschistoiden Rechtspopulismus zurück, weil sie ihn unterschätzt oder seine bereits latente Macht und Mobilisierungsfähigkeit viel zu sehr fürchtet, um sie wirksam einzudämmen? Wird darin auch eine Machtressource gesehen, mit der man gegebenenfalls handelseinig werden kann? In Washington hat sie sich vier Jahre lang auf den Kommandohöhen des Staates gezeigt. Auch da sind die USA Deutschland voraus, aber weniger als warnendes Beispiel, sondern in Sichtweite.
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