Griff zum roten Telefon

Ukraine Prominente europäische Sicherheitspolitiker warnen vor einem Krieg aus Versehen
Ausgabe 32/2014
Ruhe vor dem Sturm? Ein ukrainischer Panzer in der Nähe von Donezk im Osten des Landes
Ruhe vor dem Sturm? Ein ukrainischer Panzer in der Nähe von Donezk im Osten des Landes

Foto: Andrey Kransoschekov / AFP / Getty Images

Die Szenarien haben nichts mit verstiegenen Fantasien, sondern mit realen Vorgängen zu tun. Ein russisches Militärflugzeug nähert sich Anfang Juli einem US-Kriegsschiff, das im Schwarzen Meer patrouilliert. Mehrfach wird der Kreuzer überflogen, ehe der Jet wieder abdreht. Was wäre geschehen, hätte die Crew mit Warnschüssen reagiert, die zum Absturz der Maschine führen? Von vergleichbarer Eskalationsdynamik ist auszugehen, wenn ukrainische Artilleriegeschosse, wie jüngst geschehen, auf russischem Gebiet einschlagen.

Es sind solche Zwischenfälle, die das Londoner European Leadership Network alarmieren und vor einem „Krieg aus Versehen“ warnen lassen. Der kann zwischen der Ukraine und Russland ausbrechen, ist aber genauso als Crash zwischen US-Einheiten und der russischen Armee denkbar, was die NATO gewiss nicht untätig ließe. Das Netzwerk prominenter Sicherheitspolitiker verlangt mehr Kommunikation und Transparenz, um „Beinahe-Zusammenstöße“ der gegnerischen Lager zu vermeiden. „Wir glauben, dass der Konflikt in der Ostukraine die Sicherheit von ganz Europa gefährdet“, warnen unter anderen der einstige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe, Russlands Ex-Außenminister Igor Iwanow und Ex-Geheimdienstchef Wjatscheslaw Trubnikow oder Frankreichs früherer Wehrminister Alain Richard.

Ist die Zeit reif, wieder ein „rotes Telefon“ einzurichten, wie das sowjetische und amerikanische Regierungen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts für unverzichtbar hielten, um einem atomaren Schlagabtausch „aus Versehen“ zu entgehen? Man eröffnete die Hotline zwischen Moskau und Washington nach der Kuba-Krise von 1962, als für Tage das Inferno einer Selbstvernichtung über der Menschheit schwebte. Ein Atomkrieg zwischen beiden Supermächten war nicht mehr auszuschließen. Diese Erfahrung ließ wissen, nicht allein Konflikte dieses Kalibers können den ganz großen Knall provozieren. Solange Atomzeitalter, Nuklearrüstung und Blockdenken zusammengehören, sind auch technische Defekte, menschliches Versagen, Irrtümer und Missverständnisse dazu angetan. In Stanley Kubricks Spielfilm Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben ist es ein geistesgestörter US-General, der aus emphatischem Antikommunismus einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion auslöst. Als man im US-Oberkommando begreift, was nun droht, folgt der Griff zum „roten Telefon“, dennoch nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Zum Schluss reitet der Pilot eines US-Bombers auf einer Rakete jubelnd dem Abwurfziel und der Apokalypse entgegen. Nuklearer Rüstungswahn ist so wahnsinnig, dass er sich allen Vorkehrungen zum Trotz hemmungslos austobt. Wer das eindämmen will, braucht mehr als ein „rotes Telefon“. Den muss der politische Wille beseelen, die Gefahr zu bannen. Bis 1989 gab es dazu keine Alternative.

Heftige Ausschläge

Und heute? Im Sommer 2014 will niemand um der Ukraine willen einen Atomkrieg führen, könnte man denken. Allerdings scheint das European Leadership Network davon nicht überzeugt zu sein, wird doch sein Beharren auf Vorwarnsystemen auch damit begründet, dass „immer noch Tausende Atomwaffen auf beiden Seiten in Alarmbereitschaft sind“, womit nicht allein die Potenziale der USA und Russlands gemeint sind, gleichermaßen französische und britische Arsenale. Folglich bedarf es erneut eines verantwortungsvollen Handelns, um einen Konflikt zu beherrschen, auf dessen Eskalationsskala heftige Ausschläge möglich sind. „Rote Telefone“ werden gebraucht wie Exit-Strategien. Bisher jedoch geben die USA wie die EU mit verschärften Sanktionen gegen Russland zu verstehen, dass die Kraftprobe mit Moskau vorangetrieben wird. Wie weit? Wohin? Bis zu Embargo-Maßnahmen, wie sie seit einem Jahrzehnt gegen den Iran gelten? Dann würde ein ökonomischer Boykott Russlands praktiziert, den es so nicht einmal in den heißen Zeiten des Kalten Krieges gab. Von den fatalen Folgen solcher Restriktionen abgesehen, wäre deren Wirkung schon deshalb zweifelhaft, weil es parallel keine UN-Sanktionen wie im Fall Irans gäbe. Russland, vermutlich auch China würden im UN-Sicherheitsrat ihr Veto einlegen. Das heißt, die Sanktionsdramaturgie erreicht irgendwann ihren toten Punkt. Ein Anreiz, rechtzeitig und gründlich über Ausstiegsszenarien nachzudenken.

Die EU wird sich entscheiden müssen, ob sie in der Ukraine Konfliktpartei bleiben oder Vermittler werden will – mit einem annähernd gleichen Abstand zu Moskau und Kiew. Man kann dies auch so formulieren: Es geht nicht um die Konfrontation mit Russland, sondern um die Erlösung vom Zwang zu solcherart Konfrontation. Michail Gorbatschow hat einst das Verhältnis der Sowjetunion zu den USA von diesem Zwang befreien wollen, um einer Welt zu dienen, die kein „rotes Telefon“ mehr braucht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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