Ein Staat von Rang wird bis ins Mark erschüttert. Großbritanniens Regierbarkeit droht zu kollabieren und erinnert an Zustände, wie sie sonst bei einem „failed state“ üblich sind. Regierung und Parlament setzen sich gegenseitig außer Kraft, da Theresa May die Abstimmung zum Brexit-Vertrag storniert hat und nahe dran war, das Vertrauen ihrer Fraktion zu verlieren. Wo eine Entscheidung überfällig ist, kokettiert sie mit ihrer Ohnmacht und klammert sich an ein Mandat, das weitgehend verspielt scheint.
Derartige Szenarien müssen Politikberater – nicht zuletzt aus der EU – vor Augen haben, wenn sie Administrationen in Guinea, im Sudan oder Niger ermahnen, doch bitte auf Good Governance zu achten.
So kompromisslos die EU-Zentrale bisher mit dem abtrünnigen Mitglied verfahren ist, wird wohl eine Mehrheit im britischen Unterhaus die Premierministerin am 11. Dezember durchfallen lassen. Nur steht eines außer Frage: Scheitert die britische Regierung mit dem Brexit-Deal, dann auch die EU mit ihrem Ziel des regulierten Ausstiegs. Wieder einmal driften im vereinten Europa Wille und Wirklichkeit auseinander.
Da der Europäische Rat wie die EU-Kommission den vorliegenden Vertragstext zur alternativlosen Agenda erklären – wie das der EU-Gipfel in dieser Woche nochmals bestätigt hat – beschert das Großbritannien statt des ultimativen Ausstiegs eine zweitklassige Mitgliedschaft. Die wird kaum zu umgehen sein, wenn wegen Nordirland das Vereinigte Königreich auf unbestimmte Zeit mit der EU-Zollunion verbunden bleibt, ohne darauf nach dem D-Day 29. März 2019 noch Einfluss nehmen zu können.
Statt des mit dem Brexit beabsichtigten Souveränitätsgewinns wäre das ein Souveränitätsverlust, verbunden mit der Erfahrung: Zu politischer Selbstbestimmung ohne EU kann man nur zurückkehren, wird im Einvernehmen mit der EU darüber entschieden, wie. Mag sein, dass die Regierung May von Anfang an ihre Verhandlungsstärke überschätzt hat, die sie im Namen der drittstärksten Volkswirtschaft Europas auskosten wollte. Unterschätzt hat sie auf jeden Fall, wie entschieden ihr in Brüssel Paroli geboten wurde.
Festung Freihandelszone
Diese Europäische Union ist eben keine Solidar-, sondern eine Vertragsgemeinschaft, die nur im Notfall Sonderrechte einräumt, aber niemandem gewährt, der sich absetzt. Wer aussteigt, wird zum Außenseiter. Alles andere liefe auf einen Präzedenzfall hinaus, auf den sich Nachahmer berufen können, wenn Exit- als Streitfälle vor dem Europäischen Gerichtshof oder anderswo landen.
Einmal mehr wird ersichtlich, wie die Zukunft dieser Staatenunion in ihrer Vergangenheit liegt. Unbedingte Treue zum globalen Wettbewerbsvorteil Gemeinsamer Markt ist die unerlässliche Bedingung, um daran teilhaben zu können. Am Festungscharakter der Freihandelszone, die seit den Römischen Verträgen von 1957 verbürgt ist, darf nicht gerüttelt werden. Davon hängt ab, ob und wie sich die in der EU vereinten kapitalistischen Ökonomien reproduzieren. Filialen außerhalb des Festungsgrabens, die eigenen Geschäften nachgehen, schlagen Breschen ins Bollwerk.
Wenn der Philosoph Walter Benjamin einst vom Kapitalismus als einer Religion sprach, dann haben die Brexit-Unterhändler der EU wie Michel Barnier ihr Mandat mit religiöser Inbrunst ausgefüllt und dem Dissidenten so hingebungsvoll die Instrumente gezeigt, dass darüber ein Staat ins Wanken kommt. Wer vorbehaltlos an die Europäische Idee glaubt, dem sollte spätestens jetzt auffallen, wie sehr die gern beschworenen friedensstiftenden Qualitäten des Staatenbundes EU ihre Systemgrenzen haben.
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