Gysi Rider

18. März 1990 Erinnerungen an den Tag, an dem der DDR-Sozialismus in die (Wahl-)Urne kam
Ausgabe 11/2020

Wer sich über die Linden hinweg zum Lustgarten und zur Nationalgalerie treiben lässt, muss unter grün schimmernden Bäumen hindurch, die den Flaum des Frühlings zeigen. Im Geäst glitzert Licht und trübt für Sekunden den Blick. Der 18. März 1990 ist ein sonnenüberstrahlter Tag, noch kalt und schon warm, verführerisch und festlich. Als Wahltag eine Einladung: Komm! Ins Offene, Freund.

Ist am Vormittag die Stimme abgegeben, werden viele Wähler zu Flaneuren. Recht häufig – aber das ist eben Berlin – sind DDR-Fahnen zu sehen, Kinder tragen sie ihren Eltern voran und herumjagenden Hunden hinterher. Heine kommt mir in den Sinn: „Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Der Eichenbaum wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft. Es war ein Traum.“ Welche Verstiegenheit an einem solchen Tag, aber die innere Uhr ist leider stehengeblieben, zu Bruch gegangen, von der Zeit überholt, als dass es noch einen Sinn hätte, danach zu schauen. Vermutlich hängt das mit der ewigen Fallsucht zusammen. Honecker-Sturz, Mauer-Fall, DDR-Untergang. Nun liegt auch der Sozialismus in der Urne, die vorerst noch eine Wahlurne ist.

Kein Kaffee im Palast

Ich frage einen Kollegen aus der Adlershofer Fernsehanstalt, der mich begleitet, ansonsten das Jugendmagazin elf99 moderiert: Was soll aus uns werden, wenn alles so kommt, wie es sein wird? Die Antwort: Wir müssen versuchen, mit dem Kopf zuerst unter der Scheuerleiste des öffentlich-rechtlichen Fernsehens hindurchzukriechen, dann nehmen sie uns vielleicht. Demut tut not. Rot heißt tot. Wenn das nicht klappt, können wir immer noch Versicherungen verkaufen.

Solche Sprüche verdüstern das Gemüt. Sie machen die Rechnung auf, die unweigerlich ins Haus flattert. Man muss dafür Abbitte leisten, nicht in Hamburg, sondern Halle aufgewachsen zu sein und die DDR für einen legitimen Staat gehalten zu haben. Nicht, weil es einem eingebläut wurde, sondern aus Überzeugung. Wie umgehen mit der Legende, es habe in den vergangenen 40 Jahren im Osten Millionen von Opfern und nur eine kleine Clique zu allem entschlossener Überzeugungstäter gegeben? Erich Honecker kam 1945 aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden, jetzt muss er ins Zuchthaus Berlin-Rummelsburg, wohin ihn Anfang Januar Staatsanwälte verfrachten, die gestern noch der sozialistischen Rechtsordnung Geltung verschafften. Die Botschaft: Es wird zum Komplizen von Verbrechern, wer sich nicht schleunigst unter die Opfer mischt. Das DDR-Volk verfällt einem Ablasshandel wie bei der Entnazifizierung nach 1945, alles vergeben und vergessen, wenn ihr die Zeichen der Zeit versteht. An der Wahlurne etwa. Der Vorbeter ruft, er heißt Helmut Kohl.

Im Osten können jetzt Nazis ungestört zu erkennen geben, dass sie Nazis sind. In Leipzig, der Heldenstadt, gründet sich die erste Ortsgruppe der Republikaner. Bertolt Brecht wird auf seinem Grabstein in weißer Farbe bescheinigt, eine „Judensau“ zu sein. Die Staatsmacht riskiert nichts mehr so kurz vor Toresschluss, schaut zu oder weg. Der nicht eben kerzengerade, aber auch nicht sonderlich mühsame Aufstieg der AfD beginnt in dieser Zeit.

Die Parole, rette sich, wer kann, belagert viele außerordentliche Kongresse, die es seit Januar 1990 gegeben hat. Es tagen die Theaterschaffenden, die Film- und Fernsehschaffenden, die Schriftsteller, der Journalistenverband, das Komitee für Unterhaltungskunst. Die Veranstalter finden sich zwischen allen Stühlen wieder und sitzen auf keinem so richtig. Die Suche nach Orientierung korrespondiert mit der Gewissheit, bestenfalls als Notgemeinschaft Überlebenschancen zu haben. Oder sollte man sich gleich auflösen, der Endlichkeit seines Daseins vertrauen? Die subversive Empathie, früher für DDR-Kunst eine Frage der Ehre, wirkt plötzlich ausgelaugt und erschöpft. Bilderstürmer werden zu Selbstzerstörern. Allein die Unterhaltungskünstler wagen die Innovation und gründen einen Dachverband e. V., unter dessen Baldachin alle Sparten präsent, doch für sich sein wollen: Jazzer, Diskotheker, Schlagersänger, Tänzer. Die Satzung leistet sich einen Schuss realitätsblinde Utopie – oder unterschwellige Nostalgie. Wer weiß das schon. Man werde sich gegen „alle Ansätze einer ökonomischen Zensur, die die freie Entfaltung der Unterhaltungskunst unterlaufen, engagieren“, wird insistiert.

Wir können an diesem Sonntag nicht wie gewohnt im Foyer des Palastes der Republik Kaffee trinken, herumsitzen, auf jemanden warten oder am Postschalter einen Barscheck einlösen. Rings um die gläserne Blume hat das Ostfernsehen sein Wahlstudio aufgebaut und sich mit den Demoskopen von INFAS eingelassen. Für Punkt 18.00 Uhr ist die erste Prognose fällig. Mehr tot als scheintot ist die DDR umso reifer für die parlamentarische Demokratie und simuliert deren Rituale. Es wird ein Schock sein, wenn INFAS in ein paar Stunden seine weißen Parteibälle nach oben klettern oder weit unten verharren lässt.

Als Ersatz für den Palast empfiehlt sich das Gebäude des einstigen SED-Zentralkomitees am Werderschen Markt, ein offenes Haus, seit dort keiner mehr hinter verschlossenen Türen tagt. Das Bauwerk, 1940 als neue Reichsbank vollendet, ist ein klotzig-wuchtiger Schlag ins Stadtkontor, zieht sich den Spreegraben entlang fast bis zum Spittelmarkt.

Hüpfburg statt Wachposten

Statt Einheits- bewegen sich durch die frühere Parteizentrale mittlerweile nur noch demokratische Sozialisten. Wo am Fuße der großen Freitreppe einmal Wachposten standen, gibt es zum Wahltag eine Hüpfburg für Kinder, Buch- und Bierstände, Plakate und Poster der Partei des Demokratischen Sozialismus. „Kein Anschluss unter dieser Nummer – PDS“. Dazu immer wieder das Konterfei des Spitzenkandidaten Gregor Gysi, nicht mit toten, ausgestochenen Augen wie draußen vor der Tür, sondern unzerstört und zuweilen in der Montur eines Bikers, als wollte er gleich auf eine Harley-Davidson steigen. Die Abschlusskundgebung der PDS zwei Tage zuvor beginnt mit einem Video: Take it easy, Gysi, am Fallschirm beim Zwillingssprung aus großer Höhe. Mancher hat Kopf und Kragen riskiert, um sich in Richtung Demokratie durchzuschlagen.

Man sieht im Parteihaus am Werderschen Markt viele junge Leute mit bunten Haaren, mit Gysi-Anstecker am Hemd und Sowjetkoppel am Hosenbund, das Körper und Seele zusammenhält. Ein halbes Jahr später wird man froh sein, dass im verwaisten ZK-Saal noch Mobiliar übrig blieb, Stühle, Tische, Sessel. Die letzte DDR-Volkskammer zieht für ihre letzten Tagungen ins einstige Zentralkomitee. Im Palast der Republik hat das Parlament ausgesorgt. Asbestgefahr, Auszug, Abmarsch. Der Demokratie im Osten werden früh die Schauplätze knapp.

Punkt 18.00 Uhr schießt der weiße INFAS-Ball für die CDU-Ost wie von der Strippe gezogen nach oben. Fast 41 Prozent für die willfährigste Blockpartei, die der SED je zu Diensten war. 48 Prozent insgesamt erhält die neue Einheitspartei „Allianz für Deutschland“. Für die SPD-Ost ist der Ball schnell gespielt: 21 Prozent. Wenigstens werden die Sozialdemokraten zum Regieren gebraucht. Die Verträge zur Staatsaufgabe bedürfen der Zwei-Drittel-Mehrheit.

Als das Wahlergebnis feststeht, scheint dieser 18. März in ein Vorher und ein Nachher zu zerfallen und ist doch ein einziger Tag in einem einzigen Leben. Kein lautes Krachen ist zu hören, so lautlos entschwindet die DDR, als hätte sie den stillen Abgang verdient. Auf meinem Innenhof bleiben die Fenster geschlossen, die Zugbrücken hochgezogen, niemand hat Schwarz-Rot-Gold geflaggt. Es dauert bis zur Nacht vom 2. zum 3. Oktober, dass ein Betrunkener krakeelt: „Alle Roten raustreten zum Erschießen, alle Roten raus …!“ Der Urschrei dessen, was ansteht.

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